: „Die gemischten Stationen haben sich als Bumerang erwiesen“
In der feministischen Therapie sollen Frauen lernen, daß ihre Störungen nicht individuelles Versagen, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse sind ■ I N T E R V I E W
Hannelore Voss, Psychologin, und Elisabeth Pahl, Nervenärztin, gründeten 1982 - nach langjährigen Berufserfahrungen in der Psychiatrie - zusammen mit drei weiteren Kolleginnen das Projekt „Frauenspezifische sozialtherapeutische Fortbildung“ für Frauen in sozialen, pädagogischen, klinischen und psychotherapeutischen Einrichtungen. Viele Kursantinnen fungieren heute als Multiplikatorinnen für einen feministischen Therapieansatz.
taz: Sie haben auf der Tagung die „frauengerechte Diagnostik und Therapie“ in die Diskussion gebracht. Was ist das?
Hannelore Voss: Wir müssen zunächst eine frauengerechtere Neudefinition der bestehenden Diagnoseschemata leisten. Denn zur Zeit können wir in der feministischen Therapie noch nicht auf die üblichen Schemata verzichten. Das aber wird oft von sehr radikalen Frauen verlangt. So als hätten wir bereits ein anderes Begriffsrepertoire und theoretisches Rüstzeug zur Verfügung.
Haben Sie ein Beispiel für diese Neudefinition?
Hannelore Voss: Wenn eine Frau mit der Diagnose Depression, meist als endogen bezeichnet, in die Psychiatrie kommt, rastet bei fast allen eine klassische Bewertung ein. Endogen, denken die meisten, heißt konstitutionell, ererbt, da kann man nicht mehr viel machen, da muß mit Psychopharmaka gedämpft werden, das ist möglicherweise ein unheilbarer Fall, der irgendwann hospitalisiert werden muß. So funktioniert das patriarchale Wertesystem. Ich kann mir aber auch die Mühe machen, mit dieser Frau gemeinsam ihre Lebensgeschichte zu erforschen. Dann finden wir vielleicht heraus, daß ihre Sozialisation als Mädchen der Kern ihrer depressiven Symptomatik ist. Sehr viele Frauen mit dieser Symptomatik, wahrscheinlich 50 bis 80 Prozent, wurden Opfer von Mißbrauch.
Es heißt, daß 80 Prozent aller Frauen, die in der Psychiatrie landen, Erfahrung mit sexueller Gewalt haben? Halten Sie diese Zahl für realistisch?
Elisabeth Pahl: In meiner eigenen, ambulanten Praxis sind drei Viertel der Frauen sexuell mißbraucht worden. Bei den Fixerinnen sind es 80 und bei den Frauen mit Eßstörungen 75 Prozent. Wobei aber erst in der letzten Zeit die Zusammenhänge erforscht werden.
Hannelore Voss: Aus meiner Supervision von Psychiatrieteams weiß ich, daß die Dunkelziffer enorm ist. Denn wenn eine Frau mit der Diagnose „paranoide Schizophrenie“ oder „schwere Depression“ psychiatrisiert wird, wird häufig nicht einmal in der Anamnese nach Gewalt im weitesten Sinne gefragt, weil sexueller Mißbrauch oder Gewaltverhältnisse in der Familie in der Psychiatrie noch so tabu sind. Das ist nicht im Bewußtsein der meist männlichen Ärzte, die die Aufnahmegespräche führen, die Diagnose und die Indikation für eine Behandlung stellen, und schon gar nicht im Bewußtsein des Pflegepersonals.
Elisabeth Pahl: Selbst unter feministischen Therapeutinnen ist diese Frage erst in der letzten Zeit selbstverständlich geworden.
Wie findet die Erkenntnis über die zentrale Rolle der sexuellen Gewalt bei psychischen Krankheiten Eingang in die feministische Therapie?
Elisabeth Pahl: Ein wichtiger Aspekt ist, daß in der feministischen Therapie patriarchale Herrschaftsverhältnisse offengelegt werden. Das heißt auch, daß ich als Therapeutin meine Macht transparent machen muß. Denn für eine Frau, die als Mädchen sexuell mißbraucht wurde, ist es wichtig, Realität zu lernen. Und es ist real, daß ich als feministische Therapeutin Macht über die Patientin habe.
Hannelore Voss: Die Analyse der patriarchalen Strukturen macht den Frauen ihre eigenen Gewalterfahrungen deutlich individuell wie kollektiv. Deswegen ist es auch so wichtig, in der Gruppe zu arbeiten.
Elisabeth Pahl: Das kollektive Bewußtsein hat ja den Sinn, daß die Frau ihre Störung nicht als ihr ureigenstes Versagen wertet, sondern als strukturelles Problem der patriarchalen Gesellschaft begreift. In diesem Zusammenhang muß auch deutlich gemacht werden, daß wir in einer zwangsheterosexuellen Gesellschaft leben. Das kann frau natürlich auch in massive Krisen stürzen, die in der traditionellen Psychiatrie ignoriert werden. Kaum eine Frau, weder Fachfrau noch Patientin, traut sich zu sagen, daß sie lesbisch ist, weil sie Gefahr läuft, stigmatisiert und pathologisiert zu werden.
Können feministische Therapieprojekte auf die Psychiatrie tatsächlich Einfluß nehmen?
Elisabeth Pahl: Bisher wirken sie nur im ambulanten Bereich. Der Gewinn dieses Mannheimer Kreises ist aber, daß nun auch Frauen innerhalb der Institutionen für Freiräume kämpfen, in denen sie vielleicht etwas frauengerechter arbeiten können.
Hannelore Voss: Es stellt sich mir immer wieder die Frage, warum es so schwer ist, innerhalb der stationären Psychiatrie Frauenstationen einzurichten, in denen nur Frauen die Patientinnen betreuen. Nun hatte ja aber die DGSP in den 70er Jahren das Ziel, gemischte Stationen zu eröffnen, um vom alten System der getrennten Frauen- und Männerhäuser wegzukommen. Das galt als Fortschritt und war es auch - in gewisser Weise. Meines Erachtens hat sich das inzwischen aber als Bumerang erwiesen, weil sich an den patriarchalen Strukturen natürlich überhaupt nichts geändert hat. Vielmehr übernehmen Frauen in Null Komma nichts in den gemischten Stationen und Wohngemeinschaften noch ausgeprägter als in der Außenwelt ihre traditionellen Rollen. Wenn wir über eine feministische Sozialpsychiatrie reden, die sich jetzt vielleicht aus dieser Tagung entwickelt, dann müssen sich die Mitarbeiterinnen vorrangig Gedanken machen, wie Frauen für einen gewissen Zeitraum einen Raum kriegen, wo sie unter sich sind.
Warum sagen Sie für einen gewissen Zeitraum?
Hannelore Voss: Weil ich nicht zurück zu den alten Frauenhäusern möchte, in denen Frauen die normale Begegnung mit Männern nicht möglich war.
Elisabeth Pahl: In der traditionellen Psychiatrie waren zwar auf den Frauenstationen nur Patientinnen, aber selbstverständlich Ärzte als Behandler. Daher muß zu einer erneuten Trennung von Frauen- und Männerstationen unbedingt gehören, daß auf den Frauenstationen nur Frauen arbeiten und auf den Männerstationen bitteschön nur Männer. Das ist der Unterschied.
Die Frauen, die auf die Männerstationen verlegt wurden, wurden dazu mißbraucht, eine bessere Atmosphäre dort zu schaffen. Ich kenne das aus der Arbeit mit Fixern. Es will sich keine Station oder Wohngemeinschaft finden, die bereit ist, nur Männer aufzunehmen. Denn die Betreuer sind nicht willens, die ätzende, beziehungsfeindliche und gewalttätige Atmosphäre zu ertragen. Sie gebrauchen Frauen, damit in den WGs eine etwas bessere emotionale Stimmung entsteht. Und das ist ja auch in der Psychiatrie durch die Reformen geschehen.
Interview: Ulrike Helwerth
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