: Als Bill Haley noch Klassenfeind war...
■ „Jugendgangs“, Zoff zwischen Banden und Cliquen, Schlägereien zwischen Polizisten und Jugendlichen und eine empörte Presse - all das gab's in Berlin schon einmal / Ein Bericht über Halbstarke in Ost und West in den 50er Jahren
Langsam bahnt sich das kleine Auto seinen Weg durch eine heftig gestikulierende, bedrohlich wirkende Gruppe von Jugendlichen. Noch haben sie den Fahrer nicht zum Anhalten gezwungen, da drängt sich ein schmächtiges Mädchen von 15 Jahren durch den Pulk und reißt eine Autotür auf. Im gleichen Moment zerrt sie jemand vom ausrollenden Fahrzeug weg. Ein Jugendpfleger hat sie aus der Menge herausgegriffen und sitzt ihr nun in der Amtsstube gegenüber. „Es war doch schon am vergangenen Donnerstag so prima aufregend“, sagt sie, „da wollten wir sehen, ob's wieder Rabbatz gibt.“
Rabbatz gibt es reichlich, jeden Donnerstag abend in der Afrikanischen Straße im Wedding. Während einiger Wochen im Sommer 1956 verwandelt sich die sonst ruhige Wohngegend einmal wöchentlich zum Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Vor einem Tanzlokal versammeln sich jugendliche Motorrad- und Mopedfahrer, die abends mit abgeschraubten Auspufftöpfen laut knatternd um die Wette fahren, Autofahrer belästigen und Anwohner anpöbeln. Nachdem sich einige Bürger beschweren, schreitet die Polizei ein und versucht, die Ansammlung der jungen Leute auf der Straße aufzulösen. Jede Woche das gleiche Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jugendlichen, bald aber kommt es auch zu ernsthaften Straßenschlachten mit brutalen Knüppeleinsätzen der Polizei. Am 13.Juli 1956 hält es die Polizeiführung sogar für angemessen, vor den Augen von etwa dreitausend Schaulustigen Wasserwerfer gegen einige hundert Jugendliche einzusetzen.
Massenkrawalle von „Halbstarken“ auf den Straßen und Tumulte bei Rock'n'Roll-Konzerten stören in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Bürgerruhe in vielen großen und kleinen Städten in West- und Osteuropa und den USA. Jugenduen pöbeln Erwachsene an oder liefern sich Schlägereien mit anderen Jugendcliquen. In West-Berlin eröffnen Massenschlägereien im Sportpalast und bei einem Vergnügungspark in Spandau im Mai 1956, in die bis zu tausend Jugendliche verwickelt sind, eine Welle von „Halbstarkenkrawallen“. Bis 1958 ereignen sich in der Halbstadt an die 40 „Großkrawalle“ mit 50 bis über 1.000 aktiven Teilnehmern.
Allein schon durch ihr Äußeres, Lederjacken, Jeans und die Brisk-Haartolle, mobilisieren die Jugendlichen Ängste und Ablehnung bei der „Normalbevölkerung“. Nur wenige Jugendliche - fast ausschließlich männliche - beteiligen sich aktiv an den Straßenkrawallen. Sie kommen meist aus Arbeiterfamilien, Studenten sind kaum darunter. Viel mehr Jugendliche jedoch finden im Rock'n'Roll und in Leinwandvorbildern wie Horst Buchholz in Die Halbstarken oder James Dean in Denn sie wissen nicht, was sie tun ihr Lebensgefühl wieder: sich trotzig behaupten in einer Welt ungerechtfertigter Zwänge und hohler Autoritäten.
Die Jugendlichen sind als „Trümmerkinder“ in den Nachkriegswirren aufgewachsen. Sie müssen früh selbständig werden und lernen, Verantwortung für sich und ihre jüngeren Geschwister zu übernehmen. Die Mütter - und falls noch vorhanden, natürlich auch die Väter - sind damit beschäftigt, das Überleben der Familie zu sichern. Um die Kinder kümmert man sich nebenbei.
Die „Trümmerkids“ haben - trotz Hunger, Kälte, enger Wohnung - viel Freiheit in diesen ersten Nachkriegsjahren, in denen eine Normalität des Alltagslebens erst langsam wieder eintritt. Die Trümmerstadt Berlin ist ein einziger großer Abenteuerspielplatz. Kletterpartien und Mutproben in zerklüfteten Backsteingebirgen, Erkundungsgänge in dunklen Ruinenkellern, mal ausprobieren, wie der Zigarettenkurs auf dem Schwarzmarkt heute steht.
Im Verlauf der fünfziger Jahre kehrt jedoch eine ungewohnte Normalität in das Alltagsleben zurück. Elternhaus und Schule beginnen wieder, ihre Autorität durchzusetzen. Im restaurativen Klima der fünfziger Jahre ist „parieren“ wieder angesagt.
In der Berliner Öffentlichkeit artikulieren sich zwei entgegengesetzte Antworten auf die Provokationen der „Halbstarken“. Während die meisten konservativen Politiker und vor allem die Boulevardpresse nach scharfen polizeilichen Maßnahmen rufen, fechten die Jugendverbände und die Jugendämter West-Berlins für Verständnis und Nachsicht. Sie fordern bessere pädagogische Betreuung für die „Problemjugendlichen“ und werden nicht müde zu erklären, daß es sich ja nur um eine verschwindend kleine Minderheit handele.
Was dem Westen die „Halbstarken“, das sind dem Osten die „Rowdys“. Sie tauchen in der DDR ebenfalls 1956, zunächst vorwiegend in Kleinstädten und Dörfern, scheinbar wie aus dem Nichts auf. Wie ihre westlichen Pendants belästigen sie Passanten, beschädigen fremde Fahrzeuge und erzeugen bei gemeinsamen Fahrten einen Höllenlärm - allerdings nicht durch knatternde Motorräder, sondern mittels „sinnreich konstruierter Sirenen und Klingeln“, die sie an ihren Fahrrädern anbringen. In Ost-Berlin ereignet sich der erste „Großkrawall“ mit 600 Teilnehmern am 8.Dezember 1956 im Lustgarten. Anders als in West-Berlin, wo besonders die Boulevardpresse gegen die aufbegehrenden Jugendlichen Stimmung macht, geht die DDR-Presse zunächst sehr behutsam mit den unzufriedenen und aggressiven Jugendlichen um. Man bezeichnet sie zumeist als „sittlich und sozial Gefährdete“. Im Spätsommer und Herbst 1957 häufen sich die Meldungen über provokantes Auftreten von „Rowdys“ in der Öffentlichkeit, vorwiegend in den Innenstadtbezirken Ost-Berlins. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Einheitsjugendverband in der DDR, sieht sich gefordert.
Der ehemalige Interimspräsident der DDR, Hans Modrow, ist damals 29 Jahre alt und seit 1953 erster Sekretär der Berliner Bezirksleitung der FDJ. Seit 1955 richtet er im Zuge der „Tauwetterperiode“ nach Stalins Tod öffentliche Gesamtberliner Jugendforen ein, in denen „auf jede Frage eine Antwort“ gegeben werden soll. Selbst der 'Spiegel‘, sonst nicht zimperlich im Umgang mit den DDR-Mächtigen, lobt in seiner Ausgabe vom 18.April 1956 die „erstaunlich unautoritäre Freude am Risiko“.
Am 22.Oktober 1957 behandelt das Jugendforum der Berliner FDJ das Thema Rowdytum. Der Berliner Volkspolizeipräsident und dreihundert Jugendliche, die der Generalmajor wohl zu einem guten Teil als Rowdys bezeichnet hätte, sitzen sich gegenüber. Aber so ganz scheint der Dialog doch nicht zu funktionieren. Als der Oberpolizist ankündigt, härtere Mittel einzusetzen, wenn gute Worte nichts helfen, verlassen etwa 50 Jugendliche nach einiger Zeit den Saal, um pöbelnd durch die Dimitroffstraße zu ziehen.
Die Jugendkrawalle stürzen die Politiker in Ost und West zunächst in Ratlosigkeit. Wo doch alles besser zu werden scheint: Im Westen verringert sich die Jugendarbeitslosigkeit, und ein rosaroter Horizont verheißt Wohlstand und Ruhe. Im Osten verweist man auf die sozialen Errungenschaften und den hohen Stellenwert der Jugendpolitik - und schließlich müsse doch die sozialistische Erziehung endlich Früchte tragen. Im Westen schieben viele die Schuld an den Jugendkrawallen auf die Sensationspresse. Im Osten gelten die schädlichen Einflüsse der amerikanischen Trivialkultur als Ursache der Jugendunruhen. Bei der Bewertung des Rock'n'Roll treffen sich die Argumente wieder: Sein „primitiver Rhythmus“ enthemme die Jugendlichen und führe zu Exzessen und Aggressionen.
Bis sich die Erkenntnis durchsetzt, daß in dem provozierenden und aggressiven Verhalten ein unartikulierter, emotional bestimmter Unmut über kulturellen Mief, öde Langeweile des Alltagslebens, repressive Erziehung und Bevormundung hervorbricht, sollten noch einige Jahrzehnte vergehen.
Die kalten Krieger im Westen vermuten die Ursachen für die Ausschreitungen in der Afrikanischen Straße 1956 ganz woanders. Für sie steht fest, „daß die SED, wie nicht anders zu erwarten, kräftig in das Feuer des Unruheherdes blasen werde“.
Umgekehrt entlarven die östlichen Scharfmacher vom SED -Blatt 'Neues Deutschland‘ die wahren Schuldigen für die Krawalle im Westberliner Sportpalast während des berühmten Rock'n'Roll-Konzertes von Bill Haley im Oktober 1958. Unter der Überschrift: „Eine Orgie der amerikanischen Unkultur. Senat läßt Ami-Gangster auf Westberliner Jugend los“ gibt es keine Gnade für den „wahren Drahtzieher“, den Westberliner Senat.
So mißbrauchten Ost und West auch die ungeliebten Halbstarken als willkommene Munition im Grabenkampf des Kalten Krieges. Den Ruf der Jugendlichen nach mehr Freiraum und weniger Gängelung hörte indes kam jemand.
Roland Gröschel
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des 'Blickpunkt‘)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen