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Das Geheimnis des Erfolgs der „Löwen“

■ Jocelyn Targett, Korrespondentin der Londonor Tageszeitung 'Guardian‘, gewann in einer Bar von Nkondongo das wichtigste Fußballspiel aller Zeiten - beim Sieg der Kameruner gegen Kolumbien

Als die reguläre Spielzeit des wichtigsten Fußballspiels aller Zeiten vorüber war und es immer noch nullnull stand, kam ein Mann in mittleren Jahren in einem Safari-Anzug lachend und schreiend in die Bar, wo 30 oder 40 von uns versuchten, das Match im Fernsehen zu verfolgen. Ich hielt ihn für völlig übergeschnappt. Er brüllte Unsinn heraus, so laut er nur konnte, und die Zuschauer machten mit. „Brrrrrr -Jah!“ bellte er. „Oi!“ schrie die Menge zurück. „Brrrrrr -Jah!“ schrie er, krümmte sich zusammen und machte mit dem „Jah!“ einen Sprung. „Oi!“ brüllte die Menge und streckte die Fäuste in die Luft.

Als er mich sah, verzog der Wahnsinnige sein Gesicht und betrachtete mich staunend. Er umarmte mich, schloß die Augen und drückte mich. „Du bist ein gutes Omen“, sagte er. „Warte hier, ich mach was Besonderes mit Dir.“ Er rannte hinaus in den Regen, seine Turnschuhe spritzten ihm den roten Lehm der Straße hinten auf die Hosen. „Mach dir keine Sorgen“, sagte mir jemand, als er fort war und das Spiel in Neapel weiterging. „Das ist bloß Appolinaire, der Zauberer.“

Den größten Teil der ersten Halbzeit hatte ich in einer kleinen Bar gesehen. Aber dort war im Sturm der Empfänger zusammengebrochen, und wir mußten über die Straße zum nächsten Fernseher rennen, um nichts zu verpassen. Wir brauchten nicht lange zu suchen. In Kamerun gibt es wohl nur einen Fernseher auf 500 Menschen, aber in Nkondongo, einem verzweifelten Slum hart trinkender Fußballfanatiker, muß einfach jede Bar einen haben.

Im Spiel war bis dahin nicht allzuviel passiert; wir stöhnten erleichtert bei den Fehlschüssen der Kolumbianer und verzweifelt bei den unseren, und wenn das Bild verrückt spielte, fuhren wir den kleinen Jungen an, der in einem Regal saß und die Antenne hielt. Plötzlich schoß Appolinaire wieder herein und schwenkte eine Kerze. Jetzt sollte sich alles ändern. „Wir müssen die Situation aufbrechen“, sagte er, „wir brauchen was Ungewöhnliches.“ Das sollte ich sein. Wie geheißen zündete ich die Kerze an einer Zigarette an. Appolinaire murmelte eine Beschwörung, und dann grinste er wieder. Dann mußte ich ihm auf den Parkplatz gegenüber folgen und die Kerze auf der Hinterachse eines kaputten Kabrioletts befestigen.

Als wir in die Bar zurückkamen, schoß Roger Miller, der Mittelstürmer-Held, gerade ein Tor. Als er einschoß, verloren wir alle die Kontrolle; wir sprangen herum, rannten hinaus, wieder herein, schrien und umarmten jeden, der im Weg stand. Selbst der Antennenjunge fuchtelte mit dem freien Arm in der Luft herum. Alle fielen über mich her, als hätte ich das Tor geschossen.

Als Miller den Kolumbianern ein paar Minuten später noch ein Tor hineinsetzte, kam der Zauberer, nahm mich bei der Hand und zog mich dorthin, wo er das Spiel ansah - zusammen mit mindestens 90 anderen in der Mobil-Werkstatt auf der anderen Straßenseite. Ein riesiger Fernseher thronte auf einer Pyramide von Ölfässern. Der Ruhm meiner magischen Fähigkeiten war mir vorausgeeilt. Ich bekam einen Ehrenplatz.

Niemand machte sich irgendwelche Sorgen, als Kolumbien wenig später auch ein Tor schoß. Wir bemerkten es kaum. Auf der Straße rasten die Autos vorbei und hupten wie verrückt. „Brrrrrrrr-Jah!“ schrie Appolinaire. „Oi!“ donnerte die Werkstatt. Kein Mensch hörte den Schlußpfiff. Daß das Spiel vorbei war, merkten wir erst, als das Fernsehen Werbespots brachte.

Wir rannten ein paar hundert Meter weiter in Nkondongos beliebteste Bar, die Radio-Bar. Die schnell hereinbrechende Äquator-Nacht hatte schon alles in Dunkelheit gehüllt. In der Bar dröhnten Kameruner Rhythmen mit höchster Lautstärke, und Familien, Liebespaare, Freunde, Straßenverkäufer, Polizisten, Taxifahrer und Zauberer sprangen herum. Eine junge Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte - der Schaum ihrer Bierflasche spritzte über mich, als sie an mich herantanzte - preßte mein linkes Bein fest zwischen ihre Schenkel und rieb wie wild ihren Körper an mir. Ich begann, mich leicht geschmeichelt zu fühlen, als sie mich wieder losließ und mit einer alten Frau genauso weitertanzte, dann mit einem Kind und dann mit drei Männern. Inzwischen wurde ich geschüttelt, gerollt, geküßt, geknetet, geschlagen, geputzt und frikassiert von immer neuen Partnern.

Als Appollinaire, der sich als Gefängniswärter entpuppte, schließlich vorschlug, wir sollten zu ihm nach Hause gehen, um richtig zu feiern, machte ich mich davon in Richtung Stadtmitte. Aus: 'Guardian‘ vom 25.

Deutsch von Meino Bünin

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