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Tod, Erotik, Gott, Juden...

■ Irena Maryniak sprach mit dem sowjetischen Kritiker Mikhail Epstein

Die Tabus, auf die ein zeitgenössisches Schreiben heute trifft, sind aufteilbar in die von oben auferlegten und die spontan kreierten aus der Bevölkerung. Und die aus der Bevölkerung haben eine sehr viel größere Resistenz als die, die die Behörden aufgestellt haben. Beispielsweise gibt es das dunkle Tabu, in irgendeiner Weise über den Tod zu sprechen. Unsere Geschichte enthält so viel Tod, Schmerz, Perversion und Leiden, daß es zu einer großen Abwehr gekommen ist. Und dennoch können wir es ja nur aus unserem unterdrückten Bewußtsein erlösen, indem wir darüber sprechen. Wenn wir es weiterhin unterdrücken, kann es sich schließlich eines Tages mit Gewalt entladen.

Texte über den Tod sind nicht von den Behörden verboten worden. Der Tod ist nicht Trotzkij. Aber der Tod wird für die Autoritäten in der Sowjetunion zu einem sehr viel gefährlicheren Thema, als es Trotzkij je war.

Es gibt die Skala von verbotenen Themen, die ich als Horizontalstruktur beschreiben würde; darin sind Verbotenes und Erlaubtes klar definiert. Solschenizyn war bis vor kurzem verboten, jetzt ist er erlaubt; Restriktionen für direkt antisowjetische und antimarxistische Literatur sind in Kraft geblieben. Mir scheint aber, daß auf dieser horizontalen Ebene die Skala des Erlaubten sich von Monat zu Monat erweitert, und vielleicht sind in ein oder zwei Jahren die letzten Grenzen gefallen.

Aber es existiert auch eine vertikale Struktur. Die Folgen der Ideologie zeigen sich in den Beschränkungen, die sie den Individuen auferlegt. Sie reduzieren den Menschen auf einen Baumstamm: Krone und Wurzeln werden weggehackt. Nur der Stamm bleibt - zum Gebrauch als Feuerholz.

Mir scheint, daß die Verleugnung religiöser Höhen und materieller Tiefen zur Zeit das größte Tabugebiet in der sowjetischen Literatur darstellt. Allerdings wird das physische „Unten“ - Erotik, Ausscheiden -, das bisher keinen Ort hatte, zunehmend in Formen alternativer, nichtkonformistischer Kunst erkundet. Das alternative Kino beispielsweise zeigt immer wieder das Bild einer mit Exkrementen beschmierten Menschheit. Im Symbol der Scheiße haben wir uns alle wiedererkannt. Es ist gefährlich, weil es die Metapher unserer Leben ist. Wir haben eine Welt geschaffen, die aus dem Abfall anderer Systeme und Kulturen besteht.

Dann gibt es natürlich das Tabu des Obszönen. Der Chefredakteur von Atmoda, einer Kulturzeitschrift in Riga, kam vor Gericht, weil er Gedichte von Timur Kibirow publiziert hatte, in denen Rußland als Hure mit geöffneten Beinen dargestellt wird. Worte wie „Hündin“, „Hure“ und „Schwanz“ werden gebraucht, aber sie sind jedesmal im Kontext ästhetisch gerechtfertigt und nicht etwa pornographisch.

Pornographie ist weiterhin verboten, obwohl ihre Funktion als eindeutige und nur negative nicht bewiesen ist. Pornographie im Bild ist eine Art, auf die Triebe externalisiert werden können, die, wenn man sie unterdrückt, auf sehr viel zerstörerischere Weise wiederkehren können. Diese Tabus des Unziemlichen und Obszönen sind in eine Ideologie eingeflossen, die fürchtet, ihre eigene Verbindung mit der Unterwelt des Obszönen, des Mißbrauchs und des Verbrechens aufzudecken.

Auf der anderen Seite gibt es das Verbot religiöser Dichtung und Kreativität. Der Sozialismus wollte selber Religion sein und andere religiöse Elemente in der Gesellschaft ersetzen und eliminieren. Tatsächlich hat er uns in eine Grauzone der Lähmung geführt. Ideologie hat die Tendenz, sowohl das „Niedrige“ als auch das „Hohe“ in der Literatur auszulöschen, da sie alles mit sich zu ersetzen sucht, alles andere in sich verwandelt. Deshalb erlaubt sie auch leichter, daß solche gesellschaftlichen Zensurmuster in die horizontale Zensurstruktur aufgenommen werden.

Aber ich glaube, daß eine Zunahme des Erlaubten auf dieser Ebene unweigerlich auch eine Erweiterung in jene Richtung zur Folge haben wird. Wenn Solschenizyn veröffentlicht ist, werden auch bald Obszönitäten im Druck erlaubt sein. Die beiden sind voneinander abhängig. Der Körper der Zensur ist elliptisch. Er wird von oben gedrückt und ist in der Horizontalen weiter. Seine Auflösung jedoch findet in alle Richtungen gleichzeitig statt.

Mikhail Epstein wurde auch nach den Problemen gefragt, mit denen nichtrussische und besonders jüdische Schriftsteller wie er konfrontiert sind, da bedrohliche Aktionen extrem nationalistischer russischer Gruppierungen im Anstieg begriffen sind.

Die Stellung der nichtrussischen Schriftsteller in der literarischen Welt wird hier tatsächlich immer schwieriger. In letzter Zeit hat eine Position viel Zulauf und Einfluß erhalten, die „das Russische“ ausschließlich aus der Herkunft definiert und als etwas, das im Gegensatz zu allem außerhalb seiner selbst steht.

Vielleicht habe ich sogar noch Glück mit meinem eindeutigen Jude-Sein. Ich habe einen jüdischen Nachnamen, und man kann mich daher nicht der Duplizität zeihen. Ich bin, wer ich bin. Aber ich habe, wie viele andere Juden auch, keine klar definierte Beziehung zu dem Volk, zu dem ich durch Herkunft gehöre. Dagegen haben wir eine Beziehung zur Kultur des russischen Volkes. Wir stehen auf einer Kreuzung aus Herkunft und Kultur.

In gewissem Sinne sind auch wir Emigranten. Der Emigrant im Ausland ist ohne seine Wurzeln, aber er steht nicht als Schuldiger für irgend etwas da. Hier schiebt man uns zur Zeit die Verantwortung für alles zu, was seit siebzig Jahren in Rußland passiert ist: für die Oktoberrevolution und das Massaker an sechzig Millionen Menschen (einschließlich Zehntausender von Juden, nebenbei gesagt).

Bis heute ist das öffentliche Aussprechen des Wortes „Jude“ etwas Unangenehmes. Denn entweder ist es ein Schimpfwort oder ein kläglicher Selbstrechtfertigungsversuch. „Warum beleidigt ihr mich?“ Die Stimme des kleinen Mannes. Das Wort selbst ist schon von seiner Semantik her etwas irgendwie Nachteiliges und genießt nicht den Status eines normalen Wortes wie „Buch“ oder „Mauer“.

Man muß übrigens der russischen Intelligentia in dieser Hinsicht vollen Respekt zollen. Es ist Natalija Iwanowna von Druschba Narodow zu verdanken, daß kürzlich ein wichtiger Artikel von Berdiajew über Christentum und Antisemitismus veröffentlicht wurde. Und ich möchte auch besonders Sinjawskij und Rosanow erwähnen, die meiner Ansicht nach die Würde ihrer Kultur aufrechterhalten zu einer Zeit, in der das Wort „russisch“ in seinem Ausschließlichkeitssinn fast schon ein böses Schimpfwort geworden ist. Die russische Intelligentia hat die Sache einer verfolgten Minderheit zu ihrer eigenen gemacht und verteidigt sie gegenüber anderen Russen, die ihre Nationalität in einen engen ethnischen Rahmen pressen.

Schriftsteller wie Wasilii Below und Valentin Rasputin haben die Literatur provinzialisiert, besonders mit ihren Aufsätzen. Sie fallen zurück auf archaische Formen, die in jeder Kultur immer nur einen kleinen Ausschnitt ausmachen, während die Bestimmung jeder Kultur ist, sich in der Kommunikation mit anderen Kulturen zu erweitern. Das rein „Russische“ aus der russischen Kultur herausdestillieren zu wollen, hieße nicht, diese Kultur zu erhöhen, sondern sie verarmen zu lassen.

Vielleicht liegt die größte Gefahr sogar in dieser Feindschaft zwischen Russen und Russen. Der Konflikt zwischen Russen und Juden ist nahezu verständlich, aber heute ist es die Beziehung der Russen untereinander, die zunehmend tragisch wird. Der Jude ist zum Prüfstein geworden, an dem sich zwei russische Kulturen erproben. Die eine mit ihrer Fähigkeit zu einer allumfassenden Sensibilität, die andere mit ihrer totalen Ausschließlichkeit.

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