: „Lebenstatsachen“ als Straftat?
■ Die Stammheimer Prozeßneuauflage gegen Luitgard Hornstein geht in die neunte Woche Erwartungsgemäß gibt es bisher keine Beweise für ihre Beteiligung am Dornier-Anschlag
Von Edgar Neumann
Stuttgart (taz) - In der Stammheimer Prozeßneuauflage vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart wird seit dem 8. Mai verhandelt, ob die 27jährige Studentin Luitgard Hornstein am Anschlag auf den Rüstungskonzern Dornier im Juli 1986 beteiligt war. „Juristisch stehen die Chancen so gut wie noch nie“, hatten die Rechtsanwälte der Angeklagten drei Wochen nach Prozeßbeginn um den Anschlag auf die Firma Dornier im Juli 1986 erklärt. Dies scheint sich immer mehr zu bewahrheiten.
Luitgard Hornstein war im Juni 1988 wegen Mitgliedschaft in der RAF zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der 5. Strafsenat des OLG Stuttgart hatte sie seinerzeit wegen des Dornier-Anschlags nicht belangt, wogegen die Bundesanwaltschaft erfolgreich beim BGH Revision einlegte. Im gleichen Verfahren waren Eva-Sibylle Haule-Frimpong zu 15 Jahren und Christian Kluth zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Die optimistische Einschätzung der Verteidiger gründet unter anderem auf der Aussage von Frau Wagner, einer Schriftgutachterin des Bundeskriminalamtes (BKA). Sie erklärte im jetzigen Verfahren, daß Schlußfolgerungen aus ihrer früheren Expertise, auf die der 5. Strafsenat des OLG sein Urteil gegen Eva Haule, Christian Kluth und Luitgard Hornstein gestützt hatte, schlichtweg abwegig seien. Dabei war es um die Frage gegangen, ob Andrea Sievering die Bekennerbriefumschläge nach dem Anschlag auf Dornier beschriftet habe. Frau Wagner hatte das in einem ausdrücklich hypothetischen Gutachten als „möglich“ bezeichnet. Das entspricht der zweituntersten Stufe einer Wahrscheinlichkeitsskala für Schrifturheberschaften. Die Bundesanwaltschaft hatte dennoch im damaligen Verfahren ein Gutachten des Hamburger Graphologen Hans Ockelmann eingeholt, der die Schrift „mit 1000prozentiger Sicherheit“ Andrea Sievering zuordnete. Die Richter im Verfahren gegen Haule, Kluth und Hornstein stellten folgenden Zusammenhang her: Christian Kluth trug bei einer Polizeikontrolle fünf Tage vor dem Anschlag einen von Erik Prauss geschriebenen Parolenzettel bei sich, dessen Inhalt mit Eingangspassagen der Bekennerschreiben übereinstimme. Auf Ockelmann alleine mochten die Richter sich nicht stützen, aber das Wagnersche Gutachten reichte ihnen zur Begründung, daß Andrea Sievering die Bekennerbriefumschläge beschriftet habe. Da Luitgard Hornstein und Christian Kluth zusammen mit Eva Haule im August 1986 in einer Rüsselsheimer Eisdiele verhaftet wurden, reichte dies alles zur Verurteilung wegen Mitgliedschaft in der RAF. Als reine „Kontaktschuld“ hatten die Verteidiger diese Anklagekonstruktion eingestuft.
Genauso fragwürdig sind andere Zusammenhänge, die in der Revisionsentscheidung des BGH nachzulesen sind. Die Beschäftigung mit dem „anschlagsrelevanten“ Thema Dornier, der Kontakt zu Personen aus dem Umfeld der RAF, das Bekenntnis zu linker Militanz sowie die Verwendung falscher Papiere in der Zeit nach dem Dornier-Anschlag durch Christian Kluth und Luitgard Hornstein wurden vom BGH als Hinweis auf eine Tatbeteiligung gewertet. So findet zunehmend der Tatbestand der „Lebenstatsachen“ anstatt handfester Beweismittel Eingang in die Rechtsprechung. Mit der Hypothese „Täter kehrt zum Tatort zurück“ versuchen die obersten Ankläger überdies, die Verkäuferin eines Lebensmittelladens in Kressbronn am Bodensee als Zeugin aufzubauen, die Luitgard Hornstein zusammen mit Eva Haule 5 Tage nach dem Anschlag in ihrem Laden gesehen haben will. Abgesehen davon, daß sich die Frau hinsichtlich der Personenbeschreibung in allerlei Widersprüche verwickelte, wäre eine Tatbeteiligung nach Ansicht der Verteidiger selbst dann nicht erwiesen, wenn man die Richtigkeit der Aussage unterstellte.
Am gestrigen Verhandlungstag verfügte der Vorsitzende Richter Berroth, der sonst vor allem mit Ordnungsstrafen gegen aufmüpfige Prozeßbesucher glänzt, die Beiziehung eines Tonbandes mit einer Prozeßerklärung von Eric Prauss. Diese war im Verfahren gegen ihn und Andrea Sievering wesentliche Grundlage für die Urteilsbegründung gewesen. Prauss hatte im jetzigen Prozeß gegen Luitgard Hornstein mit eigenen Aufzeichnungen erläutert, daß ihn das Gericht völlig falsch zitiert habe. Sollte der Tonbandmitschnitt dies beweisen, ergäben sich für die Verteidigung neue Ansatzpunkte gegen die Behauptung der Bundesanwaltschaft, Hornstein, Kluth, Prauss und Sievering seien illegale Militante und hätten als kämpfende Eineit den Dornier-Anschlag begangen.
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