: High Noon
■ Das Gemetzel auf den Strassen der DDR
KOMMENTARE
Der Autoboom in der DDR wird von einer erschreckenden Unfall -Bilanz begleitet. In einzelnen Städten haben sich die Unfallzahlen verdreifacht. Zu den neuen Freiheiten gehört es offenbar auch, mit 120 Sachen über die ehemaligen Grenzübergänge zu brettern, wo die (noch gültigen) Tempo-40 -Schilder dastehen, wie lächerliche, anachronistische Mahnmale einer längst vergangenen Zeit. Jahrelang hat man sich aufgeregt, über die Schikanen und Strafzettel der verhaßten DDR-Vopos, die für viele West-Bürger der Berührungspunkt mit den staatlichen Organen der DDR waren. Jetzt, nach deren Entmachtung und Autoritätsverlust, darf man endlich ungehindert in West und Ost die Sau rauslassen.
Doch nicht Rasen, Saufen und der auf den DDR-Straßen gegenwärtig faktisch bestehende rechtsfreie Raum wird für die Unfallzahlen verantwortlich gemacht. Von 'Spiegel‘ bis 'Welt‘, Polizei bis Psychologen heißt es neuerdings: Die können nicht mit West-Autos umgehen! Auf Trabi und Spitzengeschwindigkeit 104 geeicht, würden ihnen die neuen West-Raketen zunehmend aus dem Ruder laufen. Das ist so dumm wie arrogant.
Auf den Straßen der DDR zeigt sich nichts anderes als die Auswirkungen einer verkehrspolitischen Wende. Die DDR steigt nicht nur auf die PS-stärkeren und, wie die Statistik zeigt, damit unfallträchtigeren West-Autos um, sondern auch von Tempo 80/100 auf Tempo unbegrenzt und von 0,0 Promille auf ein-Bierchen-geht-schon-noch (rein). Es ist der Übergang vom gezähmten Verkehr zum ungezähmten. Vom Modell Vopo zum Modell ADAC. Daß der DDR-Verkehr bislang von den Polizei -Heeren real-sozialistischer Stalinisten gezähmt worden ist, ändert nicht daran, daß Zähmung richtig und notwendig ist. Die falschen Mittel diskreditieren nicht das richtige Ziel. Die Alternative ist die jetzt für jeden sichtbare Katastrophe auf den Straßen. Durch den schlechten Ausbauzustand der DDR-Straßen sind die Auswirkungen der Verkehrswende noch dramatischer. Deshalb ist zu befürchten, daß die DDR bald nicht nur die BRD-Unfallzahlen erreichen, sondern sie locker überholen wird.
Daß inzwischen ausgerechnet der ADAC klagt, daß die DDR -Vopos kaum noch kontrollieren und daß die alten Tempovorschriften praktisch abgeschafft worden sind, gehört zu den Kuriositäten und Widersprüchen innerhalb der neuen gesamtdeutschen Unübersichtlichkeit. Zu denjenigen, die schon jetzt Verkehrspolitik in der DDR machen und die alten Vorschriften praktisch ausgehebelt haben, gehört vor allem Bonns Verkehrsminister Zimmermann (CSU/Paulaner Weißbier). Sein furchtbares Geschwätz über sozialistische Gängelung durchs Tempolimit, über die angeblich bewährten 0,8 Promille und über die Freiheit auch mal 160 Sachen zu fahren, haben den Paradigmenwechsel auf den Straßen der DDR beschleunigt und allen die amtlich-moralische Legitimation für das gegenwärtige Wild-West auf den Straßen gegeben.
Letzte Meldung: Die DDR will endlich verstärkt Parkhäuser bauen. Fehlt nur noch - nach West-Vorbild - die Abholzung der Alleenbäume. Denn auch die sind, so hören wir, für die schweren Unfälle häufig verantwortlich.
Manfred Kriener
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