„Soll Kreuzberg im Stau ersticken?“

■ Offener Brief der Kreuzberger Baustadträtin Franziska Eichstädt-Bohlig an Verkehrssenator Wagner

DOKUMENTATION

Sehr geehrter Herr Wagner!

Nur über die Buschtrommeln ist zu erfahren, daß jetzt auch wissenschaftlich erwiesen ist, was auf den Hauptstraßen der Berliner Innenstadt schon alltägliche Erfahrung ist: nämlich, daß die Berliner täglich im Stau ersticken, wenn sie nicht radikal vom Auto auf Bus, Bahn und Fahrrad umsteigen.

Professor Hoffmann (TU) hat im Auftrag Ihrer Verwaltung ein Gutachten zur Straßenplanung im zentralen Bereich erstellt, das seit Juni vorliegt, der Öffentlichkeit aber bislang nicht zugänglich gemacht wird. Das Gutachten soll Verkehrsführungs- und Straßenbaualternativen untersuchen. Es setzt als Hauptstraßengrundnetz einen „Schutzwall“ um die City (Ost) in Form eines Ringstraßensystems voraus, zu dem Kreuzberg die Kanalufer-Hochbahnstrecke liefern muß, mit Anknüpfung an die Warschauer Straße über die Oberbaumbrücke.

Alle Kreuzberger Straßen, die irgendwie für Hauptverkehrsfunktionen benutzt werden können, sind in das „Grundnetz“ einbezogen, auch solche, die Kreuzberg dringend als „Tempo-30-Bereich“ braucht (Schöneberger Straße, Möckernstraße, östliche Oranienstraße, Wiener Straße). Kreuzberg ist also im Radial- wie im Tangentialverkehr voll verfügbares Durchfahrgebiet! Wir spüren es täglich! (...) Das wichtigste Ergebnis des Gutachtens ist darum nicht die Priorität für die eine oder andere Streckenvariante, sondern die Tatsache, daß keine Variante geht ohne eine massive Verlagerung des Verkehrs von Auto auf Bahn und Bus. (...)

Ich denke, die richtigen Verkehrskonzepte liegen seit Jahr und Tag auf dem Tisch - sie müssen nur radikal verwirklicht werden. Oberstes Ziel der Investitionspolitik muß es sein, mindestens 90 bis 95 Prozent des Berufsverkehrs vom Auto auf den öffentlichen Nahverkehr zu verlagern. Dazu ist kein Ausbau neuer Haupt- und Schnellstraßen geeignet, sondern ein massiver und schneller Ausbau des Schienenverkehrs, auch der Straßenbahn, häufigere Fahrtakte der BVG, die Einführung von flächenhaft Tempo 30, verkehrsberuhigte Baumaßnahmen im Straßenprofil, die Einführung von Bus- und Fahrradspuren etc. Einiges davon hat Rot-Grün ja auch erfolgreich auf den Weg gebracht!

Aber all diese sehr richtigen Konzepte und teilweise auch realisierten Maßnahmen geraten gegenüber dem neuen Ost-West -Autoboom hoffnungslos ins Hintertreffen. (...) Wenn die Berliner Innenstadt nicht am Verkehrskollaps mit all seinen bekannten Folgen für Unfälle, Smog und Stadtzerstörung krepieren will, ist vor allem zweierlei zu tun:

1. Die öffentlichen Stellplätze sind nach dem Prinzip von BVG-Tarifen zu bezahlen, und zwar gültig im ganzen Einzugsbereich des S-Bahnringes. Bei der BVG kann dann mit zugehöriger Auto-Parkscheibe ein Ticket für 2 Stunden erworben werden, ein Touristen-Ticket oder das Monats-Umwelt -Ticket. Selbstverständlich kann es für BVG-Fahrten benutzt werden, vorausgesetzt, das parkende Auto zeigt deutlich sichtbar die dazugehörige Parkscheibe. In Stockholm ist dies schon erfolgreich eingeführt worden. Die BI-Westtangente fordert ähnliches seit langem!

2. Der Bau von privaten Stellplätzen für den Berufsverkehr muß systematisch gedrosselt werden. (...)

Wenn wir nicht wollen, daß der Stau und der Autobahnbau das Wohnen und Leben in den Innenstadtbereichen, in Kreuzberg genauso wie anderswo, unzumutbar machen, dann muß hier umgehend gehandelt werden. Das „Hoffmann„-Gutachten hat das Verdienst, daß es deutlich macht, daß die Straßenverkehrsplanung mit ihrem Latein am Ende ist.