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Veränderte Koordinaten

■ Sind die „Sieger“ des Kalten Krieges „konzeptionslos“?

DEBATTE

Das politische Koordinatensystem verändert sich, seit der Ost-West-Konflikt seine bestimmende Kraft verloren hat. Organisationen und Institutionen, die sich in der alten Welt eingerichtet hatten, müssen sich wandeln - oder sie werden verschwinden. Die Nato zum Beispiel knarrt in allen Fugen. Ebenso wie die Nato muß das, was sich in Europa Linke nennt, sein Feindbild verändern, wenn es vom Leben nicht noch härter bestraft werden will, als dies in allen Medien jetzt schon geschieht. Schlimm genug, daß die Linke zu Zeiten des Kalten Krieges ein Feindbild brauchte. Auf diese Weise entstand eine unheimliche Ähnlichkeit der außenpolitischen Wahrnehmung zwischen parteikommunistischer und nichtkommunistischer Linker. Geradezu umgekehrt zur Sicht der schrecklichen Nato-Philosophen schien das Reich des Bösen in Amerika zu liegen. Der amerikanische Krieg in Vietnam bestätigte offenbar dieses Weltbild ebenso wie die endlose Kette nordamerikanischer Interventionen in Lateinamerika. Die weltweite Stationierungspolitik der USA schürte überall Ressentiments - nicht nur bei Linken.

An diese Gefühle appelliert der irakische Führer Saddam Hussein, wenn er in Bagdad den Heiligen Krieg ausruft. Er präsentiert sich als Retter in einer schrecklichen Lage. In fast allen Ländern der Dritten Welt glückte die Ablösung von den alten Kolonialherren, aber die Abhängigkeit von den in London, New York, Tokio und Frankfurt kontrollierten Strukturen des Weltmarktes nahm zu. Die nationale Befreiung aus dem Kolonialsystem mißglückte. Einer der bedeutendsten Theoretiker der antikolonialen Befreiung analysierte diese Gefahren schon vor dreißig Jahren in der Endphase der algerischen Revolution: Keine normale bürgerliche Gesellschaft löst den Kolonialstatus ab, sondern eine Art „Schmalspur-Faschismus“. Fanons Theorie, die im Westen auf eine Apotheose der Gewalt reduziert wurde, kritisierte die „unheilvolle Rolle der Führer“ und den Schrecken der Einheitsparteien, die wie Gangs organisiert sind, um die Massen zu beeindrucken und zu beherrschen.

Die „Stimme der Volksmassen“ kommt aus dem Studio Bagdad. Aber sie wird vernommen - in den besetzten Gebieten am Rande Israels zum Beispiel, bei den Abermillionen Habenichtsen in Ägypten, bei den Abhörexperten der Geheimdienste und den westlichen Reportern, die ziemlich weit vom Schuß in irgendwelchen Hotelhallen herumhängen. Die „Stimme der Volksmassen“ verkündet Heiligen Krieg, sie setzt die arabischen Potentaten unter Legitimationsdruck, sie berichtet den Erniedrigten und Beleidigten der arabischen Nation von großen Siegen gegen mächtige Feinde, und sie verbreitet den Ruhm des neuen großen Führers, der die bösen Fremden verjagt. Die Massen selbst haben keine Stimme, sie hören das Radio aus Bagdad. Bagdad vermittelt nicht Wirklichkeit, sondern macht Reklame für das vielleicht letzte Gefecht des arabischen Nationalismus, der sich unter dem lebensbedrohenden Druck einer fundamentalistischen Welle in der islamischen Welt befindet.

Man muß nur Fanons Verdammte dieser Erde nachlesen, um das politische Elend dieses Nationalismus zu begreifen. Dieser Nationalismus hat das Massenelend in der arabischen Welt nicht nur nicht lindern können - er hat es sogar vergrößert. Die Baath-Partei konkurrierte lange Zeit mit dem Nasserismus um die Führung der arabischen Nation. Die panarabische Propaganda einer Wiedergeburt verdeckt nur mühselig die Feindseligkeit der entsprechenden Gang-Leader wie Assad oder Saddam Hussein. Die Option, im Namen der arabischen Einheit den Nachbarn zu überfallen, behielt sich jeder vor. Die reichen Feudalherren im Süden der Halbinsel lassen sich leicht im Namen des Fortschritts stürzen. Die Gefahr für den Nationalismus wächst mit der gesellschaftlichen Frustration. Schiitischer wie sunnitischer Fundamentalismus knüpft an die politische Enttäuschung der Massen an und gibt ihr eine religiös -politische Gestalt. In den besetzten Gebieten steht die aus der Tradition des Nationalismus kommende PLO mit dem Rücken zur Wand. Arafat sucht den Mythos des irakischen Golf -Abenteuers zu nutzen, um Boden gegenüber den Fundamentalisten gutzumachen. Der arabische Nationalismus meinte stets, den Islam für seine Zwecke benutzen zu können

-aber der gegenwärtige iranische Triumph am Schatt el-Arab kann ein Signal sein, daß klerikal organisierte Hierarchien kulturelle Reserven besitzen, um politische Aussichtslosigkeit in massenhaften Stolz zu verwandeln.

Das Ende des Ost-West-Konflikts bedeutet keineswegs das Ende der Geschichte. Das alte Feindbild Kommunismus läßt sich nicht einfach durch ein im Süden angesiedeltes ersetzen. Feindbilder stimmen fast nie. Die erste Chance, der UNO in einer entstehenden Weltgesellschaft eine multinationale Rolle zum Schutz bestehender Grenzen zu geben, ist durch die naßforsche Kanonenbootpolitik der USA verspielt worden. Die absurde Kanonenbeibootpolitik des Kanzlers Kohl findet sogar im grün-alternativen Lager Akklamateure. Es gab gute Gründe, Westdeutschlands Militär in die Nato einzubinden und nicht „out of area“ operieren zu lassen. Der Trick, sich über die WEU in eine Pseudoweltmachtrolle hineinzuschleichen, sollte doch zu durchschauen sein. Auch ein vereinigtes Deutschland ist Gott oder wem auch immer sei Dank - keine Weltmacht, aber es hat eine bedenkliche Macht in Europa. Auch deutsches Militär sollte an konkrete internationale Strategien gebunden werden: an eine zum politischen Stabilitätspakt umfunktionierte Nato und an eine internationale Friedensordnung im Zeichen der UNO.

Saddam Hussein war international politisch isoliert. Warum wertet man ihn durch imperialistische Drohgebärden wieder auf? Die Sieger des Kalten Krieges sind noch konzeptionsloser als die Verlierer.

Detlev Claussen

Der Autor ist Soziologe und Publizist in Frankfurt/Main.

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