: Die Moderne liegt in Afrika
■ Wole Soyinka und Heiner Mülller erzählten im Haus der Kulturen der Welt von Wind und Wahn
Dem Engel fährt der Wind ins Gesicht; vom Sturm getrieben, stürzt er rückwärts in eine unsichtbare Zukunft, während vor seinen Augen der Trümmerberg des Vergangenen wächst: So beschrieb vor fünfzig Jahren Walter Benjamin den Begriff der Geschichte, wie ihn die Moderne hervorgebracht hat.
Heute ist der Trümmerberg um einiges gewachsen, die ganze DDR ist dabei, und obendrauf sitzen am Mittwoch abend in der Reihe A voyage around · Afrikanische Welten im Haus der Kulturen der Welt Heiner Müller und Wole Soyinka, Dramatiker und Poet aus Nigeria, erster Literaturnobelpreisträger Afrikas, zu reden über Die Rolle des Theaters in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. Im Saal verläuft sich eine gemischt deutsch-afrikanische Zuhörerschaft. Heiner Müller erzählt vom Vor- und Rücklauf der Geschichte, von der Mauer, die an der Oder wiederaufgebaut wird, von Polen, Bayern und tansanischen Diplomaten, und zwischendurch verschwindet er unterm Podiumstisch und kramt eine Flasche Hochprozentiges hervor. Wole Soyinka gibt sich gelassener — er thront, vor ihm die Fangemeinde und hinter ihm ein Kontinent, und provoziert: zum Denken, zum Lachen, zum Träumen?
Es wird viel gelacht an diesem Abend. Die stille, rein private Asymmetrie des hochgezogenen deutschen Mundwinkels geht mit der saalfüllenden Ausgelassenheit der Afrikaner eine ganz und gar undialektische Verbindung ein. Von Wahnsinn und Vernunft ist die Rede, vom Geschichtsengel und vom Wind, und während Müller in seinem deutsch-deutschen Selbstgespräch den Engel zum schuldbeladenen Therapiepartner seines Trümmerberges macht, läßt Soyinka den Berg vom Sturm der Zeit gleich mitgeblasen werden, die Vergangenheit fliegt der Gegenwart nur so um die Ohren, und durch die geöffnete Berliner Mauer lugt keck das entkolonialisierte Afrika.
So führt Heiner Müller aus, die deutsche Einheit brächte neue Spaltungen und »Regionalisierungen« hervor: Bayern gegen Thüringer, Sachsen gegen Preußen, Schleswig- Holsteiner gegen Mecklenburger. Hinter jedem Fortschritt lauert der Dämon — da kennt sich die deutsche Seele aus. Doch als Müller schnell noch schmunzelnd hinzufügt, ihm sei dies eigentlich ganz recht, ist das »stille Lachen«, der kleine Wahnsinn, unüberhörbar — jedenfalls für Soyinka. Er knüpft genau hier an, schöpft aus dem vollen, fährt der deutsch-humanistischen Larmoyanz mitten ins europäische Gemüt: »Wir Afrikaner amüsieren uns köstlich über das Dilemma der Europäer.« Der afrikanische Teil des Saales tobt, das liberale Gewissen, das Afrika so gerne als hilfloses Opfer der deutschen und europäischen Vereinigung sehen möchte, wundert sich. Herr Soyinka, scheint es zu fragen, wo bleibt das Negative? Afrika, man weiß doch: aufgedunsene Bäuche, verdorrte Weiten, blutrünstige Tyrannen ... Aber Soyinka ist ungerührt. »Den tragischen Sinn gibt es für uns eigentlich nicht«, erklärt er. »Die Geschichte ist eine Person mit einem ganz bissigen Humor.«
Denn vor etwas mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1884, saßen Europas Stammesführer in Berlin am grünen Tisch über einer großen Landkarte Afrikas und malten Linien: das Stück hier für Frankreich, die Ecke dort für Großbritannien, der Leckerbissen da für das Deutsche Reich. Die europäische Vernunft machte sich einen Kontinent untertan. Seitdem besteht die Geschichte, von Afrika aus gesehen, aus einer Abfolge von Verrücktheiten, wo nur noch die von Soyinka beschworene »poetische Gerechtigkeit« hilft: Während sich Afrika nach und nach emanzipiert, haben die Europäer nun selbst mit ihrer Vernunft zu kämpfen. Rußland, das Rückgrat der Sowjetmacht, will von der Sowjetunion unabhängig werden, Deutschland wird nicht mit den einkaufenden Polen in der Kantstraße fertig — was könnte komischer sein als diese europäischen Stammeskämpfe!
So wird Afrika auf seine eigenen Ressourcen zurückgeworfen, auf die eigenen Füße gestellt. Da nickt's im Saal zufrieden: Ja, ja, die autozentrierte Entwicklung, da wissen wir Bescheid ... Doch das meint Soyinka überhaupt nicht. Aus Afrika sieht die Geschichte anders aus. Die Welt wird kräftig durchgeschüttelt, die Himmelsrichtungen kommen mit den Jahrestagen ins Gespräch, und das Ganze findet er einfach hinreißend: Die Sachsen können nicht mit den Bayern? Warum versuchen sie es nicht mit den Yoruba in Nigeria? Oder die ghanaischen Fanti-Fischer mit den Ostfriesen? Die Völker der Welt könnten per Fax ihre Gesetzestexte austauschen, man könnte auf globale Partnersuche gehen — es lebe der erdumspannende Tribalismus! Ein spielendes Denken, das das neue Europa ganz alt aussehen läßt.
Da wandert ein unsichtbarer, anonymer Zettel auf das Podium, und auf demselben empört sich einer: Müller und Soyinka, Sie sind doch Dramatiker! Also reden Sie gefälligst über Theater! Dazu ist man ja schließlich gekommen!
Ja, das Theater — die beiden Diskutanten geraten in Verzücken, und erst nach einer dezenten Pause besinnt sich Soyinka auf eine Erwiderung, in Form einer Geschichte: Ein Journalist fragt Vaclav Havel: »Haben Sie eigentlich noch Zeit zum Schreiben?« Sagt Havel, erbost ob solchen Kleingeistes: »Aber hören Sie! Ich schreibe gerade eine Demokratie!«
Demokratie schreiben — das tut Wole Soyinka schon lange. Im Reader zur Veranstaltungsreihe sind von ihm drei Gedichte zu lesen: eines über Samuel Doe, den inzwischen ermordeten Präsidenten Liberias, und zwei über Nelson Mandela, wohl die beiden Politiker, die dieses Jahr in Afrika am meisten bewegt haben. Der erste beförderte sein Land komplett auf den Trümmerberg der Geschichte, und das macht die Sache ganz einfach: Soyinka wünscht ihm ein Volksfest in Monrovia, einen blutroten Himmel und einen Laternenpfahl zum Baumeln. Mandela hingegen gehört weder zum Trümmerhaufen, noch ist er ein schreckensstarrer Engel. Wer ist Mandela? Soyinka weiß es nicht. Deine Logik macht mir Angst, Mandela heißt das eine Gedicht. Von Metamorphosen handelt es, von Taschenspielertricks und der tödlichen Logik des Spiels, das gegenwärtig in Südafrika abläuft, von Spieler und Spielmeister. Irgendwann ist das Spiel aus. »Du, der du die willensberaubten Bäuche eines Kontinentes nährst/ Was wird von dir übrig sein, Mandela?«
Spiele, die töten, Vernunft, die in Wahnsinn umschlägt — diese ältesten Obsessionen des Theaters kreisen immer wieder durch das Haus der Kulturen der Welt an diesem Abend. Soyinka erzählt, wie er zufällig den diesjährigen Putschversuch im karibischen Inselstaat Trinidad und Tobago miterlebte, wie seine Gastgeber die Schießereien als Feuerwerke mißdeuteten und er selbst die im Fernsehen übertragene Pressekonferenz der Putschisten für ein Theaterstück hielt. Müller erinnert sich — lang ist's her? — an die DDR. Waren ihre einundvierzig Jahre Traum oder Wirklichkeit, Wahnsinn oder Vernunft? Heiner Müller sorgt sich um Deutschland, dessen östliche Bewohner jetzt so tun, als hätte es die vierzig Jahre Sozialismus nie gegeben. Ein Besatzungsregime besonderer Art konstatiert er, die »totale Besetzung mit Gegenwart« und die »Auslöschung von Erinnerung an das Vergangene und von Erwartung an die Zukunft«. Deutschland glaubt, »keine Träume mehr zu brauchen«, das Ende der Geschichte wird proklamiert, die Posthistorie, die Postmoderne — Deutschland wird wahnsinnig.
Ist also die Geschichte ausgewandert, liegt die Moderne nun in Afrika? Wenigstens bläst dort der Wind, werden noch Träume produziert, wobei, so Soyinka, immer die Gefahr besteht, daß »die Verrückten« solche Träume als politisches Mandat mißverstehen. Träume müssen Träume bleiben, ihr »Tempo« darf man nicht stören. So wird unmerklich der Traum zum Inbegriff der Geschichte hochstilisiert, wird die Freiheit zu träumen zum Gradmesser der Modernität. Die »Afrikanisierung Europas« fordert Müller als letztes Gegenmittel zur langweiligen Gegenwartsfixiertheit neudeutscher Vernünftigkeit; den Respekt vor dem »sicheren Traum«, der als solcher belassen werden will, verlangt Soyinka.
Viel wird erzählt: vom schuldbewußten Schweizer Ethnologen, der sich von afrikanischer Geschäftstüchtigkeit seine Moral erschüttern läßt, von der Schallplatte, die Wole Soyinka in seinem nigerianischen Kulturinstitut zerdepperte, vom 20. August 1968, den Heiner Müller in Sofia verbrachte ...
Halt! Aus dem Zuschauerraum meldet sich die deutsche Postmoderne. Was denn eigentlich, fragt ein hagerer Intellektueller ins Saalmikrophon, diese ganze Geschichtenerzählerei da oben mit afrikanischer Literatur zu tun hätte! Er verstehe das nicht. Gibt es darauf eine Antwort? Der Abend endet in Sprachlosigkeit.
Draußen vor der Bushaltestelle glitzert ein Teich im künstlichen Licht. »Mit Sprache erreicht man nichts«, klärt ein Wartender seinen Nachbarn auf, »das ist eine alte Einsicht der Postmoderne.« Und steigt ein, Richtung Reichstag. Dominic Johnson
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen