: SCHÖNER TRAUM - RAUHE WIRKLICHKEIT
■ Supermann oder Monsterfrau: Das Elend der ReiseleiterInnen
Supermann oder Monsterfrau: das Elend der ReiseleiterInnen
VONINAR.
„Er vermählt die graue Morgendämmerung mit der roten Abendsonne“, „er macht Ihre Reise zum unvergleichlichen Erlebnis“, er, der allseits Gebildete, der allseits Einsatzbereite, der Alleskönner, der rund um die Uhr Ansprechbare, er, der nur auf Sie gewartet hat, er, auf den vor allem Sie gewartet haben, er macht den Urlaub zu dem Erlebnis, welches die Reisekataloge jedes Jahr aufs neue, doch in immer höheren Tönen verkünden. Ihm können Sie beruhigt die schönsten Stunden, ja Wochen des Jahres anvertrauen. Neben diesem Supermann hat seine weibliche Kollegin nach wie vor keine Existenzberechtigung, zumindest ist in den Anzeigentexten der Reiseveranstalter und auch in den Katalogen nur von ihm, dem Reiseleiter, und nicht von „ihr“ die Rede. Vor Ort sind diese „Supermänner“ aber oft Frauen; denn rund 60 Prozent der Studienreiseleitungen werden von Frauen durchgeführt. Dieser Hinweis sollte nun aber nicht als Tip für clevere Werbefachleute verstanden werden, das weibliche Pendant, die „Monsterfrau“ zu kreieren: sie, die in allen Lebenslagen einsatzbereit zur Verfügung steht — aber dies wird seit Patriarchatszeiten sowieso von Frauen erwartet.
Beim Treffen der StudienreiseleiterInnen wurde der Traum vom Reiseleiten mit der Wirklichkeit verglichen und auf den Boden der Tatsachen gestellt. Wie es vor Ort aussieht, ist allen bekannt, die eine organisierte Reise gemacht haben, und das sind nach neueren Statistiken immerhin zirka 25 Prozent aller deutschen UrlauberInnen. Die Organisation des Frühstücks, Stadtrundfahrten, Tempelbesuche und Museumsbesichtigungen, das Mittag- und Abendessen sowie das anschließende Abendprogramm, die Beratung in Kleidungsfragen oder aber auch die Steuerung gruppendynamischer Prozesse und nicht zuletzt die Behandlung von plötzlich auftretenden psychischen oder physischen Krankheiten während der Reise: alles kann ihm zur gefälligen Lösung anvertraut werden. Also alles, was ein Mensch können kann, wird erwartet und kann in diesem Beruf zum Einsatz kommen. Sprach-, Redefähigkeiten und Organisationstalent sind Voraussetzungen, Kenntnis der Landesinterna seine besondere Spezialität.
Mag das Reisen zu Beginn des Studienreisetourismus in den 50er und 60er Jahren noch ein Abenteuer gewesen sein, damals war alles aufregend neu und anders, heute erwartet man — selbst bei sogenannten Expeditionen — perfekte Organisation und Durchführung des Reiseprogramms, und zwar laut Katalogausschreibung. Längst sind die Routen ausgetreten und überlaufen, und es ist schwer, etwas Neues für den Reisemarkt zu erschließen, deshalb hat man den Reiseleiter als Tausendsassa entdeckt. Sein Wissen und seine Persönlichkeit sollen das erstarrte Terrain beleben und in seiner Einzigartigkeit neu erstehen lassen. Gutes Wetter hat er jederzeit herbeizuzaubern, Naturkatastrophen kann er zwar nicht verhindern, aber sind sie nun mal da, wird er selbstverständlich das beste Ersatzprogramm kennen und durchsetzen. Selbst an der entlegensten Stelle der Welt kennt er den Punkt, wo die besten Fotos zu schießen sind; wo man die letzten Antiquitäten preisgünstig kauft, weiß er, und Geheimnisse fremder Küchen liegen ihm sozusagen auf der Zunge. Wissenslücken sind zu Hause aus seinem Gedächtnis gestrichen worden.
Wer nun denkt, solch geforderter Einsatz und das entsprechende Engagement zahlen sich am Ende der Reise bei der Honorarabrechnung in barer Münze aus, der irrt. Die Honorarsätze reichen bei Studienreisen von zirka 80 DM bis zu sehr seltenen 220 DM pro Tag. Und nicht selten kommt es vor, daß mit der kostenlosen Reise auch die Reiseleitung „abgegolten“ ist. Die vom „Verband der Studienreiseleiter und -leiterinnen“ errechneten Honorarvorstellungen von rund 300 DM pro Tag können demgegenüber nur als schwache Zukunftsmusik gehört werden. Vor- und Nachbereitung einer Reise, die zum Teil sehr zeitintensiv sein können, sind hierbei gänzlich außer acht gelassen. Daß neben sozialen Problemen — viele Bekanntschaften und Freundschaften zerbrechen an den regelmäßigen Trennungen — auch Kosten infolge etwa von Krankheit oder Arbeitslosigkeit entstehen können, davor verschließen die Veranstalter bis jetzt erfolgreich die Augen. Spesen für Wäschewaschen während eines dreiwöchigen Tropenaufenthaltes werden nur vereinzelt erstattet, Auslandszulagen, wie ansonsten bei Arbeitsaufenthalten im Ausland üblich, sind kein Thema für die Branche.
Nur zu genau weiß man, man hat es mit Individualisten zu tun, mit Einzelkämpfern, die sich in der großen weiten Welt zurechtfinden, und insofern kann man ihnen auch einiges zumuten. Sind sie nicht jederzeit in der Lage, einmal in diesem und einmal in jenem Hotel, in diesem oder jenem Teil der Welt aufzuwachen und nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Problemen anderer erfolgreich umzugehen? Und schon allein rein zeitlich sind sie schwer unter einen Hut zu bringen. So ist es zunächst zwar eher verwunderlich, daß sich erst rund hundert ReiseleiterInnen im „Verband der Studienreiseleiter und -leiterinnen“ organisiert haben, aber gemessen an der Gesamtzahl von zirka 1.000 StudienreiseleiterInnen in der Bundesrepublik, sind hundert beinahe zehn Prozent — und das entspricht dem Organisationsgrad der französischen und liegt weit über dem der deutschen ArbeitnehmerInnen in der Touristikbranche.
Der „Schlaf der Supermänner und -frauen“ geht langsam zu Ende. Eine neue Berufsgruppe beginnt sich — nicht zuletzt durch die anfangs genannten Anzeigentexte — zu räkeln und verlangt das, was ansonsten für FreiberuflerInnen und Festangestellte längst gang und gäbe ist: abgesicherte Arbeitsbedingungen. Doch nicht diese werden von der Tourismuswirtschaft als dringliches Problem erkannt, sondern zunächst sollen „Prüfungen zum Erwerb eines Qualifikationsnachweises“ im Herbst dieses Jahres durchgeführt werden. Über das Wie und Was ist selbst in Fachkreisen nur wenig Genaues bekannt, und die ReiseleiterInnen müssen sich mal wieder gedulden. Aber vielleicht können sie den bald auf den Markt kommenden Katalogen entnehmen, welche neuen Qualifikationen oder auch „Wunder“ in der nächsten Saison von ihnen erwartet werden.
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