: „Das japanische Buch stirbt!“
Vom Ende der Belesenheit in der Weltstadt Tokyo ■ Von Georg Blume
Ob es die japanische Aufklärung, die japanische Demokratie oder den japanischen Marxismus je in einer originären verinnerlichten Form gegeben hat, diese Fragen beschäftigen Nippons Intellektuelle seit einem Jahrhundert, ohne befriedigende Antworten zu provozieren. Umso wichtiger ist die Beobachtung, daß in Japan seit der Öffnung zum Westen eine aufgeklärte, demokratische und marxistische Belesenheit blühte wie in kaum einem anderen Land. Faszinierend bleibt bis heute, daß ausgerechnet in Tokyo vor dem Krieg die weltweit höchste Auflage(!) der Werke von Marx und Engels erschien. Doch erscheint dies nicht als Zufall, denn das Verlagswesen und mithin das Buch, also der Grundstoff jeder Belesenheit, bildeten in Japan die Urquelle der Modernisierung schlechthin.
Japan lernte vom Westen mit dem Buch in der Hand. Kein anderes Medium stand über Jahrzehnte hinweg zur Verfügung. Viel zu spät fragt man sich deshalb auf der Frankfurter Buchmesse, was eigentlich in japanischen Bücher steht. Schon deshalb zu spät, weil es inzwischen auch die meisten Japaner nicht mehr interessiert. Heute, da Japan den Westen ökonomisch längst übertrifft und nicht mehr auf Übersetzungen angewiesen ist, hat das Buch seine Bedeutung in der Ost-West-Begegnung weitgehend verloren.
Deutschland-Broschüren verkaufen sich prima
Tokyos Kultstätten der Literatur versinken in der Bedeutungslosigkeit. So etwa die Bücherei der berühmten Tokyoter Todai-Universität: welch ein Ruf eilt ihr voraus! Zwar war sie stets auf engem Raum in einem Zwischenbau jenes stolzen Campus-Geländes untergebracht, das alle namhaften Professoren und Politiker des Landes einst besuchten. Doch galt sie in der Nachkriegszeit als Pilgerstätte aller Belesenen. Europäische Erstausgaben waren hier am leichtesten aufspürbar, kleine Verlage und wissenschaftliche Editionen wurden von der im Kollektiv geführten Büchereileitung besonders gepflegt. Meist waren es Kommunisten, die für die perfekte Organisation der Buchhandlung sorgten. Frage deshalb an den derzeitigen Büchereichef der Todai-Universität, Makoto Watanabe, was seine Buchhandlung heute noch von einer beliebigen Kommerzbücherei unterscheide? „Wir verkaufen mehr Taschenbücher. Und weil es die Professoren empfehlen, verkaufen sich auch Klassiker wie Goethes Faust recht gut.“ Die Antwort ist so niederschmetternd wie die gebotene Ware. Ein paar Reclam-Hefte müssen inzwischen als Beweis für die gute Tradition herhalten. Doch schon die Hälfte der Regale sind mit Computer-Literatur, Magazinen und Comics vollgeräumt. Watanabe nimmt eine der neuen, derzeit zahlreich verlegten Deutschland-Broschüren in die Hand, die er im Schaukasten ausgelegt hat: „Sehen Sie, eine solche Broschüre, sie ist bebildert und leicht zu blättern und vermittelt doch den Eindruck von Hintergrundwissen, im Gegensatz also zum Fernsehen: so etwas verkauft sich gut.“ Watanabe verweist außerdem auf den Verlag, der sich derzeit als Marktführer bei der Broschürenproduktion etabliert hat: Es ist ausgerechnet der angesehene Iwanami-Verlag, dem das Land Tausende von Erstübersetzungen aus Europa, den USA und China verdankt. Die Iwanami-Broschüre ist schon deshalb grotesk; man stelle sich etwa vor, der Suhrkamp Verlag publiziere demnächst Paperback- Hefte (Umfang 50 Seiten) mit Schulbuchtexten...
Eine Bibliothek ohne Leser
Nippons Studenten, die früher als Leseratten galten, verlangen nicht mehr nach Besserem. Was interessiert sie Lao-tse oder Sartre, wenn sie es bei allen Prüfungen bis zum Examen lediglich mit multiple-choice- Fragen zu tun haben. Längst haben die großen Buchhandlungen in Tokyo ganze Etagen freigeräumt, um den modernen Schülern und Studenten ihr neues, angepaßtes Angebot darzubieten: Fragebücher, Prüfungsbücher, Paukbücher, sie gibt es millionenfach — am besten gleich mit Kästchen zum Ankreuzen. Diese sonderbare Lernbuchkultur hat es zudem geschafft, den vielleicht schönsten Leseort Tokyos, sozusagen die Hochburg des Buches in der japanischen Hauptstadt zu erobern — gemeint ist die Tokyoter Stadtbibliothek. Diese Bibliothek ist eine Schatzkammer des Wissens. Unglaublich, wieviele Bücher in diesem Jahrhundert über europäische Geschichte und Kultur ins Japanische übersetzt wurden, wieviele japanische Autoren sich mit dem Thema Ost-West-Begegnung auseinandersetzten. Doch was nützt eine Stadtbibliothek, voll mit einem solchen Jahrhundertwerk, heute noch? Die Antwort ist schnell zu erraten.
Vor der Stadtbibliothek gibt es zwei Eintrittsschleusen, die eine ist frei, vor der anderen stehen tagsüber etwa hundert Schüler Schlange. Den Fünfzigsten in der Reihe erwartet ein Schild, welches die verbleibende Wartezeit von zwei Stunden anzeigt. Der normale Bibliotheksbesucher aber darf die Warteschlange passieren und findet bei der freien Schleuse schnellen Eintritt. Das Verfahren hat einen triftigen Grund: Die Bibliotheksleitung mußte nämlich vor einiger Zeit feststellen, daß die großzügigen Räumlichkeiten des Bücherpalastes zwar regelmäßig überfüllt waren, jedoch kaum jemand mehr Bücher bestellte oder auslieh. Die Tokyoter Schüler, denen zuhause der Raum zum Arbeiten fehlt, belegten Stühle und Tische mit ihren eigenen Lehrbüchern, jedoch nicht mit den Büchern der Bibliothek, die ihnen beim Pauken nicht mehr helfen konnten. Seit dieser Entdeckung reglementiert die Bibliothek den Einlaß von Schülern und Studenten — doch zeigt sich damit auch, wie wenig tatsächliche Benutzer der stolze Ort zählt. Nur wenige hundert Leser erweisen Tokyos größter Bibliothek pro Tag heute noch die Ehre.
Fünfzehn Quadratmeter Tennokritik
Die besten literarischen Institutionen unter der aufgehenden Sonne welken dahin — ob Buchhandel, Verlag oder Bibliothek. Gibt es wenigstens noch eine Gegenkultur, die sich fürs Bücherlesen begeistern kann? Shigeki Morimoto ist stolz, weil sein Laden „in den letzten zwanzig Jahren zwischen 10.000 und 50.000 Broschüren von Bürgerinitiativen verkauft hat“. Das ist im Tokyo der Gegenwart wahrhaftig eine Leistung. Morimotos Buchladen liegt mitten im Einkaufszentrum der Riesenstadt; sein Laden-Kollektiv hat Glück gehabt, als es vor zwei Jahrzehnten den 15-Quadratmeter-Raum im Erdgeschoß eines grau-schwarzen Bürogebäudes anmietete. Mit einem neuen Pachtvertrag wäre die Miete unbezahlbar. So aber führt Morimoto den letzten überlebenden Linksbuchladen der japanischen 68er-Bewegung. „In den siebziger Jahren gab es viele Läden wie den unseren, politische Schriften ließen sich überall, auch in den großen Geschäften verkaufen. Heute aber ist es schwierig. Die jungen Leute kommen nicht mehr. Wir haben immer noch die gleichen Kunden von damals.“ Morimotos Bücherregale sind eine Fundgrube für Querdenker. Hunderte von Werken befassen sich kritisch mit dem japanischen Tennosystem, Bücher, die, wie Morimoto betont, vermutlich in keinem zweiten Buchladen Japans mehr zu erhalten sind, weil die zwei großen Vertriebe, auf denen sich der gesamte Buchhandel des Landes stützt, eine kaum verdeckte Zensur auf die kaiserkritische Literatur ausüben. „Immer weniger und weniger lesen diese Bücher“, kommentiert der Ladeninhaber.
Hier gilt es freilich zu bedenken, daß der japanische Demokratiegedanke ohne die Kritik der Tenno-Ideologie literaturhistorisch gar nicht existieren könnte. Immer hat sich in Japan die Diskussion um die Demokratie an der Stellung zum Kaiser entzündet, zuerst in der Gründerzeit der Meiji-Restauration, erneut während der liberaleren zwanziger Jahre und dann nach dem Krieg, als es um den Wiederaufbau ging. Immer argumentierten die Demokraten in Japan gegen den Kaiser, niemals hatten seine Fürsprecher die Selbstbestimmung des Volkes im Sinn. Deshalb schlägt im Buchlagen von Shigeki Morimoto die Stunde auch dieser Zeit. Die Tennokritik ist auf 15 Quadratmeter im Tokyoter Einkaufsviertel verbannt.
Männerromane, Kuchenrezepte, Comics von Sex & Crime
Der Rest des Landes aber wird täglich von einer auch für westliche Vorstellungen angsterregenden Drucklawine überschwemmt. Nippons drei große Tageszeitungen sind die auflagenstärksten in der Ersten Welt. Jede Woche erscheinen Millionenauflagen der berühmt-berüchtigten „Manga“, Sex-&-Crime-Comics, die als bevorzugte U-Bahn- Lektüre der japanischen Angestelltenschar dienen. Mode-Magazine nach westlichem Zuschnitt sind populär wie nie. Auch gibt es nach wie vor an fast jedem Bahnhof einen Buchladen. Ihre Bestsellerlisten zeigen heute meist Praxis-Bücher (Wie schaffe ich ein gutes Betriebsklima, Kuchenbacken in Europa etc.). Repräsentativ ist auch das Angebot eines populären Verlages, der die Tokyoter Metro in diesen Tagen mit einer Werbekampagne überzieht. Er bietet Männerromane an, deren sämtliche Helden Angestellte in einer großer Firma sind. Es geht meist um Vorgesetzte, Konkurrenten, Liebschaften und Verhandlungen im Ausland, aufregend genug, damit die Feuilletons der Tageszeitungen den „Business-Roman“ als neue literarische Gattung preisen. Vielleicht haben sie recht. Der Business-Roman ist das Paradebeispiel für eine funktionalisierte Literatur, deren Grundidee einzig und allein auf ihrer Vermarktung beruht. Andere aber sehen in dieser Entwicklung des Ende der japanischen Literatur schlechthin.
Das Ende der Ideologie
„In Japan überlebt das Buch nicht mehr, oder vielleicht überlebt es noch für einen Prozent der Bevölkerung,“ sagt Masahiro Oshita, Gründer und Leiter des „Hatchigatsushokan“-Verlages in Tokyo. Der Verlag hat sich in den letzten Jahren durch einige erfolgreiche Publikationen zu Ökologiethemen hervorgetan. Der Verleger schätzt seinen Erfolg freilich nur als vorübergehend ein. „Wie in kaum einer anderen Stadt der Welt steigt in Tokio von Tag zu Tag die Menge der Information. Die Träger dieser Information aber sind nicht mehr die Bücher, es sind die Zeitschriften, Broschüren, Computer- und Telefaxdienste, vom Fernsehen ganz zu schweigen. Das Informationsbedürfnis entspricht der Rolle Tokyos als Zentrale der Weltwirtschaft. Die Stadt braucht die Information zum Atmen — auf der Strecke bleibt dabei jegliche politische oder ideologische Debatte. Ich glaube, daß die ideologischen Auseinandersetzungen, die es heute in Tokio noch gibt, bereits völlig bedeutungslos sind. Sie werden noch an wenigen Universitäten geführt, das ist ein Rest der alten Zeit.“ Das Plädoyer des kritischen Verlegers Masahiro Oshita entstammt wohl nicht nur den alltäglichen Erfahrungen im japanischen Verlagswesen, sondern auch den europäischen Theorien vom „Ende der Ideologie“.
Die Frankfurter Buchmesse lügt
Gerade damit macht Oshita jedoch eine Ausnahme. Praktisch seit Mitte der siebziger Jahre, als sich zeitgleich mit Europa der auch in Japan heftig umstrittene undogmatische Marxismus der Studentenbewegung an der Zeit abnutzte, hat das Land keinen intensiven Intellektuellen- Streit mehr erlebt. Die Bürgerbewegungen und die sie tragende Demokratiedebatte führten in Japan nicht in die Gesellschaft hinein, sondern endeten meist in der Randgruppenbildung. Vor allem aber fand die in den achtziger Jahren in Europa und den USA geführte Diskussion um postmoderne Theorien in Japan kaum Widerhall oder eigene Dynamik. Eine seltene Ausnahme bildete das Mitte der achtziger Jahre erschienene Rezeptionswerk Struktur und Macht des Kyotoer Soziologen Akira Asada, der versuchte, die Unbeweglichkeit der japanischen Gesellschaft nicht mehr aus der Tradition heraus, sondern mit der „postmodernen“ Kulturphänomenologie der Kommunikationsgesellschaft zu begründen. Asadas Buch verkaufte sich anfangs gut, blieb aber unverstanden bzw. ungelesen. Ebensowenig wurde es übersetzt.
Die Frankfurter Buchmesse wird eine anspruchsvolle, farbenfrohe und traditionsreiche Japan-Literatur vorführen. Nicht zuletzt wurde der Roman zum vergangenen Jahrtausendwechsel von den hohen Damen am Kaiserhof in Japan entdeckt und erfunden. Doch von Inoue bis Kawabata geben die großen Literaten des modernen Japans, die immer noch das Japan-Bild auf dem europäischen Büchermarkt beherrschen, keinen Aufschluß mehr über über den Stand der japanischen Gegenwartsliteratur, geschweige denn über Leseverhalten und Bildungsinteressen der Japaner. Nur in den seltensten Fällen gelingt es überdies der westlichen Japanologie, der wirtschaftlichen Entwicklung Nippons auf dem kulturellen Bereich zu folgen (Irmela Hijiya- Kirschnereits Buch „Das Ende der Exotik“ in der edition suhrkamp ist ein zumindest nennenswerter Versuch).
Das fehlende Interesse der europäischen Publizisten und Verleger an einer erneuten Japan-Diskussion wirkt freilich auch auf Nippons Intellektuelle zurück. Der Dialog mit dem Westen scheint für die meisten von ihnen heute abgeschlossen. Nicht umsonst ist der einzige politisch-analytische Bestseller der letzten Jahre das Werk eines rechtsradikalen Nationalisten, der sich vom Westen über die Rassentheorie distanziert: Shintaro Ishihara und sein „Japan, das Nein sagen kann“.
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