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China—ein Wintermärchen

Auch in den „liberalen“ Achtzigern galten Frauenthemen in China als „antisozial“  ■ Von Delia Davin

Anfang der 80er Jahre lockerte sich die Zensur in der Volksrepublik China. Auf allen Gebieten der Publizistik, einschließlich der Belletristik, waren ein knappes Jahrzehnt lang mehr Stimmen zu hören, als jemals zuvor in der chinesischen Geschichte.

Aber das Jahrzehnt, das so hoffnungsvoll begann, endete in einer Katastrophe. Heute sitzt die Literatur wieder in der Falle und das Klima der Erkundungen, das zuvor ein so großes Spektrum neuer — und nicht weniger von Frauen geschriebener — Arbeiten hervorgebracht hatte, ist auf dramatische Weise wieder umgeschlagen. Viele der bekannteren Autoren, einschließlich der Autorinnen Yu Luojin, Zhang Jie und Zhan Xinxin, leben inzwischen im Exil. Es sieht so aus, als ob die 90er Jahre für Schriftsteller beiden Geschlechts in China wieder eine Zeit großen Risikos wird.

Dennoch muß auch gesagt werden, daß selbst auf der Höhe der Liberalisierung die Zensur offiziell und inoffiziell weiterbestand. Für ihre Mühen zahlten SchriftstellerInnen einen hohen Preis, in Form übler politischer und persönlicher Kritik.

Als die neue Toleranz die Publikation gesellschaftskritischer Arbeiten möglich machte, waren Frauen in der Belletristik mit die ersten, die die neuen Grenzen ausprobierten. In ihrer Novelle Mittleren Alters (1980) behandelte Shen Rong die Probleme einer berufstätigen Frau, zerrissen zwischen Familie und Beruf. Ihre Geschichte portraitiert chinesische Intellektuelle als überarbeitet, unterbezahlt und dennoch in ihren Berufen hochengagiert. Die Gestalt, die in ihrer Erzählung am schlechtesten wegkommt, ist die Ehefrau eines hochrangigen Kaders, die zwar ewig den Marxismus-Leninismus predigt, jedoch für sich und ihre Familie Privilegien verlangt.

Die Schriftstellerin Zhang Jie griff mit ihrer Erzählung, Die Arche die herrschenden Vorurteile auf, denen geschiedene Frauen ausgesetzt sind; ihre Kurzgeschichte Emerald bietet eine sympathisierende Beschreibung einer Frau, deren außereheliche Beziehung zur Geburt eines Kindes führt, das sie dann alleine aufzieht.

Beide Frauen waren, im chinesischen Kontext gesehen, außerordentlich mutig; da sie die Stützen der Gesellschaft höchst satirisch darstellten, wurden beide als „anti-gesellschaftlich“ denunziert. Zhang Li wurde zusätzlich der Vorwurf gemacht, ihre Darstellung von Liebe außerhalb der Ehe untergrabe die moralische Grundlage der Gesellschaft.

Zwei andere Schriftstellerinnen, Zhang Xinxin und Yu Luojin, wurden noch persönlicher angegriffen. Zhang Xinxin, deren Arbeiten Anfang der 80er Jahre die dunklen Seiten der chinesischen Gesellschaft — vor allem Egoismus und moralischen Bankrott — enthüllt hatten, geriet besonders in der Kampagne gegen „geistige Verschmutzung“ 1983 unter Beschuß. Man verdammte sie dafür, daß sie „ihren persönlichen, völlig fehlgeleiteten Blick auf das Leben in China verbreite“, anstatt „die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen“. Als Reaktion hierauf sammelte Zhang Xinxin zusammen mit Sang Ye „wahre Geschichten aus dem Leben“, die mit den Worten derjenigen erzählt wurden, die sie erlebt hatten. Auch hier ist China ein Land, in dem Individuen zwar heroisch oder engagiert sein mögen, auf der kollektiven Ebene jedoch Korruption, Bürokratismus und Karrierismus herrschen. Um neuen Angriffen zu entgehen, trat Zhang in dieser Arbeit mehr als Sammlerin von Geschichten denn als Autorin auf. Dennoch konnten ihre Geschichten nur im Ausland erscheinen; in China wurden sie erst in der entspannteren Atmosphäre der Jahre 1984/85 publiziert.

In ihrem autobiographischen Roman Ein Wintermärchen versuchte Yu Luojin ihrem Bruder ein Denkmal zu setzen. Yu Louke, ein idealistischer Student, war verhaftet und 1970 als Konterrevolutionär erschossen worden. Die Autorin zeichnet in ihrem Roman ein Bild des chinesischen Gulag, in dem sie selbst jahrelang als Zwangsarbeiterin lebte, und beschreibt die besonderen Leiden, denen sie als Frau dort ausgesetzt war. Mit ihrer Beschreibung der ersten sexuellen Begegnung ihrer Protagonistin — eine Vergewaltigung durch den tölpelhaften jungen Ehemann, den sie, durch Armut gezwungen, geheiratet hatte — kritisiert sie in aller Deutlichkeit die sexuelle Ignoranz, in der sie und Millionen chinesischer Mädchen aufgewachsen sind. Der Roman zeigt die Traumata und Zwangsvorstellungen auf, die die Protagonistin daraufhin durchlebt.

Als der Roman 1980 erschien, waren explizit sexuelle Szenen und auch einige „politische“ Stellen gestrichen worden. Dennoch wurde Yu Luojin noch scharf kritisiert: ihre Behandlung der Ehe zeige sie als „Magd der Bourgeoisie“, und man beschuldigte sie „ungesunder politischer Tendenzen“ sowie einer „falschen literarischen Ästhetik“.

Als 1985 eine zweite Auflage vorbereitet wurde, protestierte Yu Luojin scharf gegen die Zensur: „Wenn Sie auf der Streichung dieser Passagen bestehen, wäre mir lieber, das Buch würde überhaupt nicht erscheinen. Sie haben alle das Buch mit dem größten Interesse gelesen und scheinen nicht vergiftet worden zu sein, warum also sind Sie so besorgt, der gewöhnliche Leser könne ,verschmutzt‘ werden... Autoren sollten für ihre Werke selber verantwortlich sein dürfen... Es ist eine Tragödie, wenn die Rechte von Autoren nicht geachtet werden. Wenn schon der Autor nicht geachtet wird, wie kann man dann überhaupt von einer Achtung für den Leser sprechen?“ Ihr Plädoyer wurde ignoriert. Zwar wurden viele Streichungen tatsächlich rückgängig gemacht, aber die Vergewaltigungszene blieb verstümmelt. Kurze Zeit später ersuchte Lu Luojin um politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland.

Offizielle Anerkennung oder Nichtanerkennung ist eine weitere Form der Kontrolle und Zensur in China. Trotz ihres Erfolges wurde Yu Luojin nicht als Mitglied der chinesischen Schriftstellervereinigung zugelassen, was bedeutet, daß ihr ein regelmäßiges Gehalt, leichterer Zugang zur Veröffentlichung und viele andere, an einer Mitgliedschaft gebundene Privilegien vorenthalten blieben.

Weniger als ein Zehntel der Mitglieder im Schriftstellerverband sind Frauen. Zum Teil entspricht diese Unterrepräsentation der Frauen der Tendenz, die Arbeiten der Frauen unterzubewerten. Aber selbst unter den nichtoffiziellen Schriftstellern stellen die Frauen eine Minderheit dar. Wenn man bedenkt, daß Frauen in Erziehung und Ausbildung auf nahezu jeder Ebene weniger gefördert werden, so ist dieses Ergebnis nicht weiter erstaunlich. Der größte Teil der Analphabeten findet sich bis heute unter den Frauen, und Frauen füllen nur 28 Prozent der Plätze in den Institutionen der höheren Bildung und Ausbildung.

Obgleich Hausarbeit in China belastend und zeitraubend ist, sind fast alle städtischen Frauen Chinas außer Haus berufstätig. Die doppelte Belastung läßt dabei noch weniger Zeit für irgendwelche kreativen Unternehmungen. Selbst in den Wohnungen des Mittelstandes ist der Raum knapp. Das Abendessen wird immer schnell abgedeckt, damit das Kind den Tisch für die Schularbeiten hat; später am Abend übernimmt einer der Eltern seinen Platz eventuell für irgendwelche Schreibarbeiten. Unter solchen Bedingungen können Frauen, die bescheiden und zurückhaltend zu sein haben, nicht einmal einen Platz zum Schreiben einklagen — viel weniger noch den ungestörten Rückzug.

Es gibt in China den Satz: „Erschrecke einen und du warnst Hundert.“ Daß die politische und oft auch persönliche Kritik öffentlich geübt wird, schüchtert viele Schriftsteller von vornherein ein. Manche schreiben chouti wenxue, Schubladenliteratur, die nach Fertigstellung aus Angst vor feindseliger Rezeption in den Schreibtischen verschwindet. Die Optimistischeren mögen auf bessere Zeiten hoffen, aber wie viele geben das Schreiben auf oder schreiben nur noch das, was sie für akzeptierte Literatur halten mögen.

Frauen sind für diese Art der Selbstzensur besonders empfänglich, da die Kritik bei ihnen oft gravierende Folgen hat. Häufig genug werden Moral und Charakter des Autors angegriffen, und weil an Frauen andere moralische Maßstäbe angelegt werden als an Männer, ist die Schande für die Frauen und ihre Familien größer. Das Risiko, durch das Bestehen auf Selbstverwirklichung Schande auf die zu bringen, die einem nahestehen, ist besonders schwerwiegend für eine Frau, deren orthodoxe Rolle es ist, den Familienzusammenhang aufrechtzuerhalten und zu bewahren. Zhang Jie, Yo Luojin und Zhang Xinxin waren bereits alle drei geschieden, bevor sie zu publizieren anfingen, das heißt, sie hatten gewissermaßen die Grenze schon überschritten.

Zwei Frauen, die sich nicht haben einschüchtern lassen und vor kurzem Opfer der extremsten Form von Zensur geworden sind, sind Tang Min und Dai Qing.

Tang Min ist eine Schriftstellerin aus der südlichen Provinz Fujian und hat einige der am deutlichsten feministisch engagierten Arbeiten geschrieben, die überhaupt im modernen China erschienen sind, darunter einen bewegenden Bericht über die herzlose, bürokratische Art und Weise, in der Frauen in einer Abtreibungsklinik behandelt werden. 1986 veröffentlichte sie eine Satire über einen korrupten Beamten, einen Fall aus dem ländlichen Fujian von 1970. Die Witwe des Mannes, auf den die literarische Gestalt der Satire angeblich gemünzt war, brachte 1987 einen Verleumdungsprozeß gegen die Autorin in Gang, offenbar von außen dazu genötigt. Das Urteil verzögerte sich bis Januar 1990. Tang wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und zur Zahlung einer Summe von 2.000 Yuan als Schmerzensgeld an die Klägerin — eine Summe, die Tangs Finanzen bei weitem übersteigt.

Die Pekinger Journalistin Dai Qing, früher Mitglied der Schriftstellervereinigung, ist berühmt für ihr Engagement in ökologischen Kampagnen. Ihre prominenteste Rolle war zwar nur die einer Vermittlerin, dennoch wurde sie im Zusammenhang mit der demokratischen Bewegung nach der Niederschlagung im Juni letzten Jahres verhaftet — wegen angeblicher Beteiligung an Protesten gegen die Regierungspolitik. Sie war zehn Monate im Gefängnis. Bei ihrer Entlassung im Mai diesen Jahres schlug sie Interviews mit ausländischen Journalisten aus mit der Begründung, es sei ihr verboten worden, Interviews zu geben. Aber Artikel, die in der Presse Hongkongs erschienen, beweisen ihren ungebeugten Mut. Sie sagt dort: „Mein Schicksal ist nichts, was ich alleine beeinflusse — aber wenn ich mich zumindest wie ein winziges Sandkorn nicht spalten und nicht schmelzen lasse, wenn ich meine Identität nicht verliere, dann ist das schon genug.“

Delia Davin unterrichtet am Fachbereich Ostasien-Studien an der Universität von Leeds.

Von den hier erwähnten Titeln sind auf deutsch erschienen: Yu Luojin, Ein Wintermärchen. Erzählung (Engelhardt-Vlg, Bonn, 1985).

Zhang Jie, Die Arche (Frauenoffensive, 1985, dann dtv); Schwere Flügel (Hanser 1985); Liebes-Erzählungen, (Simon&Magiera, 1987); Solange nichts passiert, geschieht auch nichts. Satiren (Hanser 1987).

Zhang Xinxin/Sang Ye, Pekingmenschen. 36 Protokolle, Diederichs 1986, weitere Titel von Z.X.: Am gleichen Horizont, Erzählung, Engelhardt-Vlg. 1986; Traum unserer Generation. Erzählung, Engelhardt- Vlg., 1986)

Eine Anthologie, „Sieben chinesische Schriftstellerinnen der Gegenwart“, (hrsg. von Ru Zhijuan u.a.) wurde 1985 vom Pekinger Verlag für fremdsprachige Literatur publiziert.

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