Juristen zwischen Angst und Überheblichkeit

Diskussion der Vereinigung demokratischer Juristen (VDJ) aus Ost und West — Forum der Mißverständnisse und Unterschiede Richter und Staatsanwälte aus der Ex-DDR ringen um ein neues Selbstverständnis/ „Wir“-Gefühl mit den BRD-Linken ist heftig gestört  ■ Von Heide Platen

Kassel (taz) — Der alte Mann schwitzt. Das schüttere, graue Haar klebt in Strähnen an seiner Stirn. Ein Haudegen des Kommunismus war er, aufrecht und voller Abscheu gegen westliche Dekadenz. „Wir haben“, sagt er, „unser Land sauber gehalten! Jetzt kommt die ganze Kriminalität.“ Seine trüb wasserblauen Augen blicken anklagend. Kein Wunder, der Mann ist schließlich Ankläger. Ihm gegenüber sitzen zwei Kollegen, ebenfalls Staatsanwälte in der südlichen ehemaligen DDR. Der eine penetrant unauffällig, bürokratisch aschblond, der andere jung, zerzaust und aufgeregt. Ihr Land mag inzwischen ehemalig sein, sie sind es jedenfalls nicht. Bürger der DDR sind sie in Sprache und Gedanken.

Scherben zerbrochener Identitäten

In ihrem Rollenverständnis sind sie unmittelbar der Staat selber gewesen, im Dienste der kommunistischen Gesellschaft, direkter Teil abstrakter und ungeteilter Gewalt. Alle drei sind, zusammen mit knapp 200 Kollegen und Kolleginnen, für zwei Tage nach Kassel gekommen. Dieses erste Treffen der beiden Vereinigungen demokratischer Juristen (VDJ) aus Ost und West sollte ein Forum sein zur Diskussion eines möglichen Zusammenschlusses. Es war, quälend, erschütternd, erschreckend, eher ein Forum, das, trotz zweckoptimistischer Schlußworte, nun versuchen konnte, die Scherben zerbrochener Identitäten zusammenzuklauben, die da herumlagen wie die zweier Tontöpfe, aus denen einer, auch bei bestem Willen und falscher Versöhnlichkeit, nicht zu machen ist.

Die Unterschiede sind schon berufsbedingt. Die Ost-Teilnehmer sind vorwiegend RichterInnen und StaatsanwältInnen, teils inzwischen eher wider- als freiwillig, oft vorsichtshalber zum Rechtsanwalt umgesattelt. Die Westler haben keinen einzigen Staatsanwalt, wenige RichterInnen, vorwiegend aber RechtsanwältInnen aufzubieten. Daß das Treffen zwischen den roten Backsteinmauern im hohen Hörsaal III der Kasseler Gesamthochschule zeitweilig den Charakter eines Tribunals gegen die DDRlerInnen annahm, lag vor allem an der politischen Vergangenheit zahlreicher westlicher KollegInnen in der DKP und anderen K-Gruppen. Das empörte, verächtliche „Wie konntet ihr nur...“, das in vielen Redebeiträgen mitschwang, nachdem die Dissidenten Jutta Braband und Reinhard Schult von ihrer Verurteilung 1980 und 1979 berichtet hatten, bekam hier seinen falschen Klang.

Schwer zu kittender Vertrauensbruch

Die Verweise darauf, daß die Justiz der Bundesrepublik auch nicht die beste aller Welten sei, siehe Asylrecht, reichten wiederum nicht aus, um den Vertrauensbruch zwischen den ehemaligen GenossInnen beider Länder zu kitten. Sie unterlagen der eigenen Kritik. Wer da selbst nur ein „Wir“ für die hiesige Seite beschwor, lag schon schief. Fragten die Westler die Ostler, warum sie keinen Widerstand geleistet hätten, klagten die Ost-JuristInnen mangelnde Kritik und Solidarität aus dem Westen jetzt und früher ein. „Ihr habt ja nicht hinsehen wollen, habt euch bei euren DDR-Reisen mit Wodka zugeschüttet und euch in euren Delegationen über die Spießigkeit der DDR lustig gemacht.“ Der „extra zur Provokation“ engagierte Moderator Hans- Gerd Brandt (Radio Bremen) wird für diese Behauptung zum Prügelknaben der West-Juristen. Provozieren könne er ja, tobt der Saal, „aber sachlich“! Die Empörung über Brandt im Ost-West-Forum ist westlich. Schuld läßt sich leichter zuweisen, wenn es nur die anderen gewesen sind und die eigene Verantwortung, wenigstens am ersten Tag, nicht einmal andeutungsweise zur Sprache kommt.

Auf der Ost-Seite sitzen die, die sich mit individueller Schuld genauso schwer tun. Sie haben es „gut gemeint“, im „Glauben“ gehandelt, nichts gewußt, nichts sein wollen als nützliche Teile der Gesellschaft. „Ich bin gerne Richter gewesen“, sagt einer. Jetzt sei er Anwalt, weil er sich nicht „dem McCarthy-Ausschuß“ stellen wolle. Sie sehen sich, gerade nach der radikalen Berliner Erlassungsentscheidung, eher als künftige Opfer gesamtdeutscher Berufsverbote und vermissen die Solidarität. „Tiefes Mißtrauen“, „Enttäuschung“ nehmen viele von ihnen mit nach Hause. „Hier wollen sich doch tatsächlich die Täter zu Opfern machen“, zürnt ein Referendar.

Die Tragik macht sich vor allem fest an den Lebensgeschichten, die die älteren unter ihnen erzählen. „Warum bis du Jurist geworden?“ lautet eine Plenumsfrage an alle DiskutantInnen. Die aus dem Westen hatten vielerlei Gründe, kaum eine jedoch war die Neigung. „Weil ich zwei linke Hände hatte“, „nichts anderes konnte“, durch Einfluß des Elternhauses. All das klingt launig. Die Geschichten aus der DDR lesen sich anders: AntifaschistInnen entschieden sich nach 1945 für das Recht, um in ihrem künftigen Staat „Nie wieder Faschismus“ zuzulassen. Ihnen sind daher die tödlichen Schüsse auf einen Hooligan in Leipzig der Beweis dafür, daß jetzt all ihre Befürchtungen Wirklichkeit werden könnten, nicht aber Warnzeichen einer sich brutalisierenden Exekutive. In diesem Konflikt ist Unwissen über den jeweils anderen Landesteil die Quelle gefährlicher Mißverständnisse. Als Richter und Staatsanwälte hätten sie in ihrem Beruf wenig Reputation gehabt, hatte ein Dresdner Staatsanwalt erzählt, Rechtsanwälte noch weniger. Welche Berufsgruppe sich denn in der DDR der größten gesellschaftlichen Anerkennung erfreut hätte? „Die Sicherheitskräfte, Polizisten!“ Ein Richter stellt mit Empörung fest: „Bei uns hat doch der Polizist, der den Angeklagten vorführte, mehr Geld bekommen als der Richter!“ Die Schüsse von Leipzig als Fehlleistung einer unsicheren, schlecht ausgebildeten, verschreckten Polizei?

Dilemma Abhängigkeit

Im Gang beschreibt ein in Ehren ergrauter DDR-Richter sein derzeitiges Dilemma richterlicher Abhängigkeit nach der Wende anhand von — natürlich — Fliesen. Er mußte jüngst urteilen über einen örtlichen Funktionär, der sich eher harmlos und auf Drängen Parteioberer geringfügiger Vorteilsnahme schuldig gemacht hatte. „Hätte ich“, fragt er — sichtlich wütend — „das Verfahren etwa einstellen sollen?“ Alle Wendehälse der Region wären dann, vermutet er, über ihn hergefallen. Er hat verurteilt. Der eigene Opportunismus fällt ihm nicht auf. Er klagt die Umstände an. Die Frage an einen jungen Staatsanwalt, wie er denn im neuen Deutschland jemanden anklagen könne, der in Not, zum Beispiel im Kaufhaus, einen Klassenfeind bestiehlt, bleibt unbeantwortet. Diese Möglichkeit ist ihm vorerst noch viel zu exotisch. In der DDR hat er das Volksvermögen vor Schaden bewahrt. Stehlen, das war ihm ein Greuel, ebenso wie „nicht arbeiten“ oder „Schulden machen“. In der Kombination war das „kriminelle Asozialität“. Das „soziale Umfeld“ hatte im realen Kommunismus mit solchem „Fehlverhalten“ nichts zu tun, das war im Gegensatz zum Kapitalismus felsenfest intakt.

Am Ende des Kongresses stehen die West-JuristInnen vor der Selbsterkenntnis überheblicher Selbstgerechtigkeit, die den DDR-Genossen die alleinige Schuld zuweist — außer vielleicht noch dem Kalten Krieg und den Reparationen. Sie sind nachdenklicher geworden. Den DDRlern, die mehr oder minder kleinlich mit der Ungerechtigkeit der Welt hadern, muß, ein Stück weit jedenfalls, bewußt geworden sein, daß es für sie nicht so sehr darum geht, ob sie als AmtsträgerInnen individuell schuldig wurden. Sie werden die völlige Wende ihrer Moral- und Wertvorstellungen in einem anderen ideologischen System in ihrem eigenen Kopf unterbringen müssen.

Der Schluß klang dennoch vorerst versöhnlich. Der kleinste gemeinsame Nenner waren eine Resolution gegen den möglichen Golf-Krieg, ein gemeinsames juristisches Aufarbeiten des Einigungsvertrages — und das Allheilmittel, das allen einleuchtete: Gewaltenteilung.