piwik no script img

Muß die »Berliner Linie« modifiziert werden?

■ taz-Forum »Hausbesetzung — was nun?« vom Wochenende mit rund 400 Leuten in der Gethsemanekirche schlägt weiter Wellen/ Gespräch mit Wolfgang Thierse (SPD-Bundesvorstand), der das Diskussionspodium unter Protest verlassen hatte

Prenzlauer Berg. Nicht wie an einem »Runden Tisch«, sondern wie auf einem »Tribunal« seien sie sich vorgekommen, begründeten die SPD-Politiker Wolfgang Thierse und Helios Mendiburu in einer gemeinsamen Erklärung ihren Auszug am Freitag abend aus der Gethsemanekirche. Die taz sprach mit dem SPD-Bundesvorständler Wolfgang Thierse.

taz: Sie haben zusammen mit Bezirksbürgermeister Mendiburu und dem Polizeibeauftragten Böhme das taz-Forum unter Protest verlassen, nachdem ein Zuhörer Innenstadtrat Krüger mit einem Zwischenruf in die Nähe von Erich Mielke gerückt hatte. Die Geschmacklosigkeit von Zwischenrufen bei öffentlichen Diskussionen ist die eine Sache. Müssen Sie als Politiker so etwas nicht wegstecken können?

Thierse: Vielleicht liegt es daran, daß ich immer noch nicht die Elefantenhaut eines Profipolitikers habe und daß es mich besonders trifft, wenn da jemand unter frenetischem Beifall der Anwesenden einen Vergleich zwischen Krüger und dem größten Stasi-Verbrecher anstellt. Aber der ganze Ablauf dieser Veranstaltung war nicht der Versuch, zu einem Gespräch zu kommen, sondern unter Führung von Bärbel Bohley ein Tribunal zu veranstalten. Mir ist diese Art von Parteilichkeit unerträglich, die nur die Gewalt auf der einen Seite sieht — also die Gewalttätigkeit der Polizisten — und nicht bereit ist, auch nur einen Nebensatz über die Gewalttätigkeit auf seiten der Hausbesetzer zu verlieren.

Nun hat Bärbel Bohley vor allem kritisiert: erstens, daß die Verhandlungsmöglichkeiten von den politisch Verantwortlichen nicht wahrgenommen oder zumindest nicht voll ausgeschöpft worden sind; zweitens, daß mit der Berliner Linie eine für Ost-Berlin völlig ungeeignete Handlunsgvorgabe übergestülpt worden ist...

Es gab in den Wochen und Monaten zuvor Verhandlungen. Die Räumung der ersten drei Häuser am Montag ist auf Basis der Berliner Linie erfolgt, die die ausdrückliche Zustimmung auch der AL gefunden hatte. Ich kann nicht im einzelnen beurteilen, an welcher Stelle im weiteren Fehler begangen worden sind. Im Prinzip bin ich der Meinung, daß in zugespitzten Situationen immer wieder der Versuch zu neuen Gesprächen unternommen werden sollte. Mich macht betroffen, daß das wichtigste Gut des Herbstes 89, unsere entschlossene Friedfertigkeit, verlorengegangen ist. Zu der müssen wir zurückkehren, weil sie die Basis für eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu Experimenten ist, die erst einmal nicht mehrheitsfähig sind. Was die Berliner Linie betrifft, so ist es nach einer Phase der Beruhigung sinnvoll, darüber zu diskutieren, inwiefern die Berliner Linie für Ost-Berlin modifiziert werden muß — angesichts einer anderen Wohnungssituation und der Folgen einer verfehlten Wohnungspolitik der letzten 40 Jahre. Da muß man anders reagieren als auf eine Wohnungssituation, die Ergebnis privatkapitalistischer Spekulationen ist.

In der Gethsemanekirche ist bislang nicht gepfiffen und gebrüllt worden, und für viele Anwesende waren solch aggressive Umgangsformen ganz offensichtlich ein Schock. Aber vor einem Jahr hat auch deshalb niemand gepfiffen, weil die Gegenseite nie da war...

Ich betrachte mich immer noch nicht als Teil der Gegenseite. Vielleicht habe ich auch deshalb so empfindlich auf die unerträgliche Atmosphäre in der Kirche reagiert. Gespräch: Andrea Böhm

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen