: Auslaufendes Modell
■ Reaganismus und Thatcherismus mit der ökonomischen Weisheit am Ende ANALYSE
Das anglo-amerikanische Jahrzehnt neigt sich plötzlich und pünktlich seinem Ende zu. In Großbritannien hat Premierministerin Margaret Thatcher gerade auf ihre letzte Schlacht verzichtet, nachdem sie dem Thatcherismus im letzten Jahr mit der Einführung der regressiven Kopfsteuer (Poll Tax) in einer Art dogmatischem Suizidversuch bereits höchstpersönlich die tödliche Wunde zugefügt hatte.
Fast auf die Woche genau zehn Jahre nach der Geburt des Reaganismus mußte dessen Verwalter George Bush bei den Novemberwahlen das Auseinanderfallen des republikanischen Konsens konstatieren. Antikommunismus und Antisteuergefühle, all diese erfolgreichen politischen Schlagworte des Jahrzehnts haben ihr Objekt verloren, sind wirtschaftlich nicht mehr durchzuhalten. Auch hier wackelt die konservative Vorherrschaft.
In beiden Ländern geht der Machtverlust der konservativen Regierungsparteien mit einem deutlichen und selbstverschuldeten wirtschaftlichen Abschwung einher. In Osteuropa entläßt der reale Sozialismus seine Kinder, in Anglo-Amerika frißt die Rezession ihre Begründer.
Und als wollten sich die schillernden Gaukler der 80er Jahre noch einmal zu einem nostalgischen Abschiedsfest des Freimarketendertums versammeln, ehe auch sie mitsamt ihren Ideen auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, treten sie in diesen Tagen alle wieder auf die Medienbühne: Kasino-Kapitalist Donald Trump macht Schlagzeilen — diesmal allerdings nicht mit einem neuen Superdeal, sondern mit Bankrottverhandlungen über das Schicksal des größten (!) Spielkasinos der Welt. Junk-bond-Jongleur Michael Milken muß für seine hyperkapitalistischen (und oft kriminellen) Energien nun zehn Jahre lang hinter Gitter; ein hartes Urteil nicht nur für den forschen Finanzier, sondern über das ganze Börsenjahrzehnt. Und last but not least hat Ronald Reagan gerade seine Memoiren veröffentlicht, in denen er sich (außer an Nancy und an seinen eigenen Mythos) an nichts Nennenswertes mehr erinnern kann. Es ist zu befürchten, daß sich die Versäumnisse seiner Präsidentschaft für die Amerikaner im Nachhinein als wirklicher erweisen als Ronald Reagan selbst.
Ob George Bush noch ein paar Jahre im Weißen Haus weiterwurschteln wird oder sich Maggies Nachfolger mit dem Schein des Neuen noch einmal den Wählern zu empfehlen vermag, all dies ändert nichts an der Tatsache: Das Dogma der Dekade von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ (Adam Smith), die schon alles richten wird, hat sich als fataler Irrtum erwiesen. Doch noch gibt es kein alternatives Gedankengebäude, das an seine Stelle treten könnte. Die Ideologie von der produktiven Entfesselung der freien Marktkräfte hat sich in den USA wie in Großbritannien selbst überlebt oder ad absurdum geführt; sie ist nicht etwa von der Opposition, ob Labour Party oder Demokratische Partei, politisch zerstört worden.
Was das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von den wirtschaftlich erfolgreicheren Industrieländern unterscheidet, ist die historische Abwesenheit einer institutionalisierten Sozialdemokratie oder eines intensiven Zusammenwirkens von Staat und Wirtschaft, wie sie in Japan praktiziert wird. In Großbritannien hatte die Mißwirtschaft einer eben noch nicht sozialdemokratisch domestizierten Arbeiterpartei in den 70er Jahren zur völligen Diskreditierung allen interventionistischen Gedankenguts geführt; in den USA haben kollektivistische Ideen („New Deal“) immer nur in einer tiefen Krise oder zum Zweck der nationalen Verteidigung politisch eine Chance gehabt. Sowohl die Labour Party als auch die Demokraten hatten mit Harold Wilsons versuchtem Modernisierungsprogramm („The White Heat of the Technological Revolution“) und Lyndon Johnsons Sozialprogrammen („Great Society“) in den 60er Jahren längst ihr ideologisches Pulver verschossen.
Während das sozialdemokratische Zwischenspiel der Brandt- und Schmidt-Regierungen der Bundesrepublik mit dem „Modell Deutschland“ einen Modernisierungsschub versetzte, fanden die kulturellen Umwälzungen der 60er und 70er Jahre im englischsprachigen Raum keine Umsetzung in der politischen oder gar wirtschaftlichen Sphäre. So ward denn hier die politische Bühne frei für die beiden Künstler der „Voodoo Economics“ (Bush 1980 über Reagans Wirtschaftsprogramm). Thatcherismus und Reaganismus waren der fast zeitgleiche Versuch, die wirtschaftlichen und politischen Strukturdefizite eines verknöcherten Korporatismus (siehe den Streikwinter von 1978) und eines ins Stocken geratenen Imperialismus (Vietnam, Iran) durch den blinden Glauben an die (Selbst-)Heilungskräfte des freien Marktes sowie durch anachronistische militärische Großmachtposen gegenüber ungefährlichen Gegnern (Falkland, Grenada) zu überwinden.
Zehn Jahre nach dem Ausrufen des totalen Laissez-faire sind die beiden Regierungschefs mit ihrem wirtschaftspolitischen Latein am Ende. Im Vereinigten Königreich meldete sich die Inflation zurück, als sei schon eine neue Labour-Regierung an der Macht; in den Vereinigten Staaten stößt die unter Ronald Reagan akkumulierte Rekordverschuldung von Staat, Unternehmen und privaten Haushalten an die Grenzen der wirtschaftlichen Erträglichkeit. Noch nie nach 1945 waren die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen zu Beginn einer Wirtschaftskrise so schlecht wie heute: Der Abbau des Wohlfahrtsstaates hat die sozialen Sicherungssysteme geschwächt; die US-Bürger haben statt Geld auf der hohen Kante Minussalden auf ihren Kreditkarten; viele Briten können sich bei Zinsen von 15 Prozent kaum noch ihre Hypothekenzahlungen leisten. Eine drohende Bankenkrise in den USA, zurückgehende Staatseinnahmen in Großbritannien sowie ein in beiden Ländern einbrechender Immobilienmarkt runden das düstere Bild am Rande der Rezession ab.
Fixiert auf das antiinterventionistische Dogma war mit dem geliehenen Geld, mit den Öl- und Privatisierungseinnahmen nur ein riesiges Umverteilungsprogramm sowie der Konsumrausch der Mittelklasse finanziert worden, deren Stimmen man die Macht verdankte. Staatliche Investitionen im Erziehungswesen und der hier wie dort zerfallenen Infrastruktur wurden sträflich vernachlässigt. Die Unternehmen, die in Japan und der Bundesrepublik durch die dort milden Auf- und Abschwünge hindurchinvestiert hatten, hielten sich in Anglo-Amerika nach dem Einbruch zu Beginn der 80er Jahre vorsichtig zurück. Industrie und Regionalpolitik, wie sie zur gleichen Zeit von konservativen Regierungskollegen in Japan und auf dem europäischen Kontinent praktiziert wurden, waren in London und Washington als „marktverzerrender Interventionismus“ oder gar „Sozialismus“ verschrieen.
Da die Wachstumsraten der US- Volkswirtschaft nicht auf ausreichenden Produktionszuwächsen und einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit beruhen, sondern nur mit „deficit spending“ und billigen Auslandskrediten erkauft wurden, bleibt der Politik am Abgrund des Abschwungs kaum noch Spielraum. Die keynesianischen Instrumente waren schon — welch ein Etikettenschwindel — in den Wachstumszeiten des Laissez-faire aufgebraucht worden. So müssen sich Präsident Bush und sein Notenbankchef heute nahezu widerstandslos der Rezession ergeben. Eine ähnliche Selbstblockade der Wirtschaftspolitik existiert in Großbritannien. Bei einer Inflationsrate von über zehn Prozent ist die Aufgabe einer Hochzinspolitik zur Vermeidung des Abschwungs fast unmöglich. So ist die Eiserne Lady jetzt Opfer ihrer eigenen Politik geworden, dem vergeblichen Versuch, der britischen Ökonomie allein mit staatlichen Ausgabenkürzungen und Steuererleichterungen, aber ohne Investitionen ein stetiges Wachstum beizubringen. Der Streit um Europa ist dabei eine — vielsagende — Randerscheinung.
Der unfreiwillige Abschied der Margaret Thatcher und der langsame Abstieg des George Bush sind Reflex eines Scheiterns der beiden die 80er Jahre beherrschenden „Ismen“ des Westens. Thatcherismus und Reaganismus, so stellt sich jetzt heraus, sind oberflächliche und unvollendete Revolutionen geblieben. Die rettende „unsichtbare Hand des Marktes“, die allein noch Reaganismus und Thatcherismus aus dem Schlamassel ziehen könnte, ist jedenfalls nirgendwo in Sicht. Rolf Paasch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen