piwik no script img

Asylbewerber bisher „statistische Größen“

■ In Chemnitz existieren weder klare Zuständigkeiten noch ein soziales Umfeld für Flüchtlingsbetreuung

„Das glaubt ja keiner, was hier los ist“, schnauft der Leiter der Abteilung Ausländerwesen bei der Chemnitzer Polizei, Horst Schuster, „mir steht's schon jetzt bis oben hin.“ Per Fernschreiben hat die Stadt Chemnitz im Oktober die Mitteilung erhalten, daß sie ab sofort Sitz der Zentralen Ausländer- und Anlaufstelle (ZASt) für das Land Sachsen ist. Seitdem hatte Horst Schuster keine ruhige Minute mehr, denn ihm fiel die Aufgabe zu, diese Behörde aufzubauen. Ein Drittel der AsylbewerberInnen, die von nächster Woche an über die ehemalige DDR verteilt werden, wird Sachsen als bevölkerungsreichstes neues Bundesland aufnehmen müssen. In konkreten Zahlen ausgedrückt: 200 bis 300 Flüchtlinge werden hier jede Woche neu ankommen und zunächst vor Schusters Bürotüren in der Hermann-Just-Straße stehen.

Nur vier MitarbeiterInnen stehen derzeit bereit, die Asylanträge von Flüchtlingen entgegenzunehmen, die seit Wochen über die nahegelegene tschechische und polnische Grenze nach Deutschland kommen. Von nächster Woche an werden sie hier mit einigen hundert AntragstellerInnen konfrontiert sein, und dann, so Abteilungsleiter Schuster, „wird's bitter“. Wie das funktionieren soll, weiß er auch nicht, denn es fehlt an allem: an Räumen, an Formularen und an Dolmetschern.

Ganze zwei Tage sind die MitarbeiterInnen der künftigen zentralen Ausländerbehörde Sachsen von westdeutschen Verwaltungsfachleuten auf ihre völlig neue Aufgabe vorbereitet worden. Und „damit man überhaupt weiß, worum es geht“, habe man sich auch ein „bißchen was angelesen“. Doch von einem Problem, wie es sich draußen vor Tür abzeichnet, war in dem zweitägigen Crashkurs offenbar nicht die Rede: „Der hat gesagt, er bringt sich hier auf der Stelle um, wenn er seinen Paß nicht wiederkriegt“, stürzt eine am ganzen Leib zitternde Mitarbeiterin in das Zimmer ihres Abteilungsleiters. Was also tun, mit dem jungen Rumänen, der gestern über die tschechische Grenze nach Sachsen kam und zur Zentralstelle nach Chemnitz gebracht wurde? „In die Nervenkiste“ sperren könne man ihn wohl kaum, denkt Abteilungsleiter Schuster vor sich hin. Am liebsten würde er dem Mann und seinen Begleitern den Paß in die Hand drücken, „und dann können die bleiben, wo sie wollen, aber wir wären sie los“.

Vor Ankunft des „großen Schubs“ herrscht Chaos

Rund 14 Tage — bis zur engültigen Verteilung auf die verschiedenen Gemeinden — sollen die Flüchtlinge am Sitz der zentralen Ausländerbehörde bleiben. Nur wo? Die am Chemnitzer Stadtrand gelegene Barackenunterkunft ist schon jetzt mit 30 Asylsuchenden voll belegt. Zwei weitere Unterbringungsobjekte in rund 40 Kilometer entfernten Nachbarstädtchen sind ebenfalls am Rande ihrer Aufnahmekapazität, und andere größere Unterbringungsmöglichkeiten sind noch nicht in Sicht. Zuständig für die Verteilung der AsylbewerberInnen ist das Referat Ausländer- und Eingliederungsangelegenheiten der Bezirksverwaltungsbehörde Chemnitz. Aber auch hier regiert das Chaos. Der noch vor kurzem zuständige Herr ist nicht mehr „vorhanden“. Und wie der „Neue“ heißt, weiß die Frau in der Telefonzentrale nicht. Dieter Köhler heißt er — stellt sich schließlich heraus —, aber so richtig zuständig fühlt er sich auch nicht. Denn noch — so wartet Köhler mit einer für alle überraschenden Aussage auf — sei noch gar nicht entschieden, ob Chemnitz überhaupt Sitz der zentralen Behörde wird. Schließlich seien noch Leipzig und Dresden im Gespräch (wovon man in Dresden allerdings gar nichts weiß). Eine Entscheidung darüber werde erst Ende der Woche fallen. Wenn Chemnitz dann tatsächlich die „Karte zieht“, meint Herr Köhler, ja, dann müßte man wohl „sofort kräftig mit der Arbeit beginnen“.

Aber, keine Sorge, beruhigt der Herr von der Bezirksverwaltung, „die Gemeinden sind theroretisch und praktisch auf die Aufnahme von Asylbewerbern vorbereitet“ — eine Aussage, die nicht nur der Ausländerbeauftragte der Stadt Chemnitz, Andreas Ehrlich, stark bezweifelt. Für die Gemeinden, so Ehrlich, seien die Asylbewerber bisher nur statistische Größen auf dem Papier. Daß sie tatsächlich einen Wohnraum brauchen, Verpflegung und soziale Betreuung, damit hätten sich die meisten Kommunen noch gar nicht auseinandergesetzt. „Und woher sollen die Gemeinden auch das Geld nehmen?“ Entsprechende Durchführungsverordnungen über die Finanzierung fehlen bis heute. „Wir hätten genug Leute für die soziale Betreuung der Asylbewerber, aber wir wissen gar nicht, ob wir dafür Stellen schaffen dürfen und wieviele.“

Für Ehrlich ist es „unverantwortlich, Asylbewerber zu schicken, wenn überhaupt keine klaren Verwaltungsstrukturen existieren und kein soziales Umfeld vorhanden ist“. Eine soziale Betreuung der Flüchtlinge finde in den neuen Bundesländern „faktisch nicht statt. Die Wohlfahrtsverbände sind erst im Aufbau, und unsere kirchlichen Gruppen sind nach der Wende etwas abgeschlafft.“ Für die rechtliche Beratung eines Asylbewerbers würde er in Chemnitz keinen einzigen erfahrenen Rechtsanwalt finden, meint Andreas Ehrlich. Dann müßte er schon einen Bekannten in Düsseldorf anrufen — und wenn er Glück hat, kommt eine Telefonverbindung zustande. Vera Gaserow, Chemnitz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen