ESSAYS: Ein Deutschland der Ungleichzeitigkeiten
Gesellschaftliche Unübersichtlichkeit wird das neuentstehende Deutschland prägen. Die Herausforderungen überlagern sich: Der wirtschaftliche Aufbau knüpft am Wachstumsmythos der alten BRD an, zugleich trifft diese „einfache Modernisierung“ überall auf Zweifler und Umdenker, die nach Wegen in eine andere Moderne suchen. Es geht um Menschenrechte und die ökologische Sicherung von Überleben. Diesen globalen Konflikt muß das neue Deutschland in sich austragen. ■ VON ULRICH BECK
Die Ost-West-Eiszeit geht zu Ende. Doch gerade die kritische, friedensbewegte, an Aufklärung orientierte Intelligenz in Deutschland schmollt. Ihre Weltbild-Inneneinrichtung ist gefährdet. Lippenbekenntnisse der Sympathie können nicht über den allgemeinen Katzenjammer hinwegtrösten und –täuschen. Mir ist das ein Rätsel – auch ein Rätsel. Da geschieht Ungeheuerliches – dieses Mal mit anderen Vorzeichen: nicht Katastrophen, sondern Wunder. Wäre es nicht an der Zeit, das Kardinalskollegium einzuberufen und ihm zwei neue Gottesbeweise vorzulegen? Erstens: Das bis in die Kapillaren des Alltags hinein militarisierte Reich des Stalinismus bricht unter dem Ansturm der Bürger unblutig zusammen. Das ist einfach ausgeschlossen, wenn weiter gilt, was bisher macht- und militärstrategisch richtig war. Zweitens: Es gibt über 400 Atomkraftwerke auf dieser Erde – und wir leben noch! Beide Fakten zwingen gerade den pessimistischen Realisten dazu, immanent konsequent Zuflucht bei der Theologie zu suchen. Es ist an der Zeit, die gesellschaftliche Landschaft, die nun frei geworden ist für die demokratische Bändigung der ökologischen Krise, neu zu vermessen.
I.
Wäre als erstes zu klären, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. Nein, da stehen wir nicht am Nullpunkt, Erfahrungen und Erkenntnisse sind gesammelt, die alte Bundesrepublik hielt schon einiges an avancierten und deshalb auch deutlichen Brüchen bereit, die als Markierungspunkte in ein Koordinatensystem zukünftiger Entwicklung eingehen werden. Wir leben in einer Gesellschaft, in der auseinandergezogen wird, was bisher analytisch als zusammengehörig gedacht wurde: Industrieproduktion ohne Industriegesellschaft. Die Industriegesellschaft, verstanden als ein lebensweltliches Modell, bei dem Geschlechtsrollen, Kleinfamilien, Klassen ineinander verschachtelt sind, verabschiedet sich bei laufenden, ja, mehr noch: durch den laufenden Motor der Industriedynamik. Die gleiche Produktionsweise, das gleiche politiche System, die gleiche Modernisierungsdynamik erzeugen ein anderes lebensweltliches Gesicht von Gesellschaft: andere Netzwerke, Beziehungskreise, Konfliktlinien, politische Bündnisform der Individuen. Wie ist das möglich? Durch den Ausbau des Sozialstaates nach dem Zweiten Weltkrieg, durch Bildungsexpansion, Reallohnsteigerung, soziale und geographische Mobilität, durch zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, Scheidungsziffern, Flexibilisierung von Erwerbsarbeit werden industriegesellschaftliche Schlüsselbegriffe und –variablen – Klasse, Kleinfamilie, Beruf – vielfältig ausdifferenziert. Die moderne Gesellschaft spaltet sich auf in ein in den Institutionen geltendes Selbstbild, das die alten Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen der Industriegesellschaft konserviert, und in eine Vielfalt lebensweltlicher Realitäten, die sich immer weiter davon entfernen.
Diese Perspektive läßt sich in zwei Thesen ausfalten: Die Industriegesellschaft als Systemzusammenhang, also die Dynamik von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft löst die Industriegesellschaft als Erfahrungszusammenhang auf. Die Menschen werden freigesetzt aus den industriellen Sicherheiten und Standardlebensformen. Männer sind nicht mehr unbedingt Väter, Väter nicht mehr unbedingt Alleinverdiener, Alleinverdiener oft nicht mehr Ehemänner. Während in früheren Generationen sozialen Schicht, Einkommenslage, Beruf, Ehepartner und politische Einstellung aus einem sozialen Guß waren und den Lebenslauf im Groben vorzeichneten, zerfällt dieses biographische Paket jetzt in seine Bestandteile.
Daraus ergibt sich eine doppelte Problematik: Zum einen fallen immer mehr Menschen durch die Normalitätsmaschen des sozialen Sicherungsnetzes (Beispiel: durch Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse unterhalb der Sozialversicherungsgrenze wird neue Armut vorprogrammiert). Zum anderen entfallen aber auch die lebensweltlichen Grundlagen der Institutionen und die Konsensformen, die diese in ihrem Bestand getragen haben (Beispiele: Wählermobilität, Stimmungsdemokratie). Die sozialen Sicherungssysteme, Arbeitsverwaltung, Familienpolitik konservieren eine industriegesellschaftliche Normalität, die für immer größere Kreise der Bevölkerung nicht mehr zutrifft. Männerinstitutionen treffen auf den Widerstand der in sie eintretenden Frauen. Alles dies bedeutet: Institutionen werden individuumabhängig; und zwar nicht, weil die Individuen so mächtig, sondern weil die Institutionen fiktiv und widersprüchlich werden.
Die Wohlstandsverteilung wird überlagert durch eine Risikoverteilung, die einer andersartigen Konfliktlogik folgt. Das sogenannte Umweltproblem ist gerade kein Problem der uns umgebenden Welt, sondern eine tief in die Grundlagen der Industriegesellschaft hinreichende Institutionenkrise. Ökologische Zerstörungen werden industriell erzeugt, ökonomisch externalisiert, juristisch individualisiert, naturwissenschaftlich legitimiert und politisch verharmlost. Anders gesagt: Das Regelsystem zur „rationalen“ Kontrolle industrieller Folgen verhält sich zu den in Gang gesetzten Gefahren wie eine Fahrradbremse zum Interkontinentalflugzeug.
Gleichzeitig ist der ökologische Gesellschaftskonflikt themenuniversell und sozial schwer eingrenzbar. Alles kann in den Sog der Auseinandersetzung geraten: Luft, Wasser, Energie, Industrieprodukte, Produktionsverfahren, Normen, Behörden, Firmen, Parteien. Sachzwänge verlieren im Lichtkegel der allgemeinen Lebensgefährdung beides: ihren Sach- und ihren Zwangscharakter, werden durch ausgeschlossene Möglichkeiten, in ihnen versteckte Entscheidungen, biegsam, ja vermeidbar.
Interessant ist dabei, daß auch das Netzwerk der Macht sich ändert. Zur Steuerung der Reichtumskonflikte haben sich Parteien und Institutionen entwickelt – nicht zuletzt Gewerkschaften und Mitbestimmungsregeln. In den zündelnden und immer wieder aufflammenden ökologischen Wegverteilungskonflikten sehen sich die handelnden Modernisierungsagenten – das Managment, nationale oder lokale Regierungen, Gewerkschaften, politische Parteien, warum nicht auch Bürgerinitiativen – plötzlich Abhängigkeiten, Mit- und Gegenspielern gegenüber, die im System der Kompromißaushandlung gar nicht vorgesehen und erst recht nicht repräsentiert sind, so daß Sicherheiten, die dort gefunden und fixiert wurden, durch unkontrollierbare Abhängigkeiten unterlaufen und zunichte gemacht werden können: Die Öffentlichkeit und die, die sie machen, spielen eine entscheidende Rolle. Neues Wissen und andere Fragen der Wissenschaftler können über Nacht alle Kontruktionen der behaupteten Nichtgefahr über den Haufen werden; nicht zu vergessen: Gevatter Unfall, der vielleicht am anderen Ende der Welt oder bei der Konkurrenz aus seiner verkündeten Unwahrscheinlichkeit heraus direkt eintritt, hereinstürzt und die Sicherheitskonstruktionen im Scheinwerferlicht der alarmierten Öffentlichkeit zum Einsturz bringt.
Dies verweist auf einen wesentlichen Punkt: Selbst Siege im ökologischen Wegverteilungs- und Leugnungskonflikt können sich über Nacht in Niederlagen verwandeln. Andere Regeln der Anerkennung und Zurechnung von Gefahren, andere Aufmersamkeiten, andere Informationszwänge, ein Umschlagen der öffentlichen Wahrnehmung, andere Einschätzungen dessen, was als zumutbar gilt und was nicht, und die Festungen der Ignoranz können in sich zusammenbrechen.
Denn anders als Klassenkonflikte drehen sich ökologische Konflikte nicht um partikulare Interessen, sondern um die Sicherung des Überlebens (wie immer dies inhaltlich bestimmt werden mag). Sie sind ein Kampf um Grundrechte. Was zweierlei Folgen hat: Zum einen macht die Bedrohung des Überlebens nicht halt vor den Grenzen und Spaltungen der industriellen Welt, weder vor der von Klassen und politischen Organisationen noch von Nationen und Erdteilen. Wer zerstört – fahrlässig oder gewollt, das spielt für das Ergebnis keine Rolle –, gefährdet früher oder später auch sich selbst. Es entsteht (wenigstens latent) ein Bumerangeffekt, der Täter und Opfer vereinigt. Woraus zum anderen auch das Ausmaß von Empörung und die Verunsicherung folgt, die, wenigstens als Gewissensbisse, auch die Handlungszentralen des industriellen Wachstums beschleicht. Ökologische Konflikte haben eine moralische und sozialen Tiefenstruktur, die aus der Verletzung von Überlebensnormen entsteht. Sie reichen weit hinter die Fassaden der forcierten Sicherheit, ziehen tiefe Gräben von Fragen und Mißtrauen bis in die Familien hinein. Werden zum Gegenstand von Vater-Sohn, Vater-Tochter, Mutter-Kind-Konflikten, erschweren sogar Liebeswerben, können sich zu sozialen Stigmatisierungen von Personen, Berufsgruppen, Firmen verdichten oder zu Neurosen, kollektiven wie individuellen. Dies alles, ohne daß die Fassaden des Handelns, Entscheidens, Behauptens von außen betrachtet angekratzt erscheinen.
Ganz und gar unverzichtbar wird daher für alle und jeden eine Politik des ökologischen Lippenbekenntnisses. Wenn überhaupt, kann nur unerkannt, unzurechenbar und unter den vollen Segeln des Naturschutzes mit der ungebrochenen Praxis der industriellen Selbstschädigung fortgefahren werden. Das aber heißt: Die zentrale Konfliktlinie spaltet nicht Für und Gegen ökologisch bewußte Produktion und Politik, sondern das allgemeine Für polarisiert sich in ein kosmetisches, symbolisches, das die Ursachen unangetastet läßt und die Weichen der Anerkennung auf Abblocken und Abwälzen einstellt, oder ein Für, das in und vor ihrer Genese die Folgen vermeiden will. Da diese Präventionspolitik die Aufdeckung der Gefahren und ihrer Produzenten voraussetzt, vollzieht sich der ökologische Konflikt als Aufdeckungs- und Aufklärungskonflikt durchaus im alten Sinne, nur daß heute auch die Dogmen der Wissenschaft und der Industrieproduktion selbst unter die Anklage der Aufklärung geraten.
II.
Es war in gewissem Umfang immer schon falsch, die Dynamik der Bundesrepublik losgelöst von jener der DDR zu begreifen und umgekehrt. Diese zwei deutschen Staaten bildeten von Anfang an einen „Geburtsgegensatz“, eine Art negativer Einheit, eine Einheit der Systemkonkurrenz im Ost-West-Gegensatz. Sie verkörperten die gegenstaatliche Opposition für einander. Die DDR war nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich die Anti-BRD, ebenso die BRD die Gegen-DDR, was die politischen Auseinandersetzungen hier wie dort bestimmte und polarisierte. Auch in diesem Sinne – und nicht nur durch Sprache, Kultur und gemeinsame Geschichte – spiegelte die Realität der Spaltung selbst immer auch die Verdopplung gleicher Reaktion, das heißt die Spaltung war immer auch irreal.
In dieser deutsch-deutschen Zwickmühle war die intellektuelle Opposition im Westen leicht gegen das Dafür, und das hieß dann: Kapitalanalyse, sozialistische Modelle, die im Trotz gegen die Gleichsetzung mit der DDR immer nur pauschal, nie wirklich in Auseinandersetzungen mit den realexistierenden Möglichkeiten eines barbarischen Sozialismus durchdacht und begründet wurden. So hat die linke Intelligenz in der Bundesrepublik die Totalitarismusanalysen einer Hannah Arendt ebenso wenig ernst genommen wie die Anklagen eines Solschenizyn, Bulgakow, Mandelstam oder die erlittenen Beichten eines Arthur Koestler. Währenddessen traf jeder Schuß an der Mauer ins Herz des marxistischen Humanismus. Es ist nicht schwer vorherzusehen, daß diese bitteren Verdrängungen eines theoriestolzen Kopf- und Protestsozialismus nicht gerade eine günstige Ausgangsstellung sind, um den dringend notwendigen Dialog mit den Schmerzerfahrungen Osteuropas tatsächlich zu beginnen und zu bestehen.
Auf der anderen Seite wird auch das „Wegrutschen“ der DDR vor dieser Folie verständlicher. Daß diese Bemühungen um einen „dritten Weg“, überhaupt der Anspruch auf eine Eigendemokratisierung der DDR, sich sehr schnell als Illusion erwiesen, dürfte nicht zuletzt hierin einen zentralen Grund haben: Polen minus Kommunismus ist immer noch Polen. DDR ohne Kommunismus ist – da hatte Otto Reinhold, der Chefideologe der SED, einmal recht – die Bundesrepublik Deutschland. Diese ist in der Politikmechanik der vertauschten Opposition die real existierende Utopie der meisten DDR-Bürger. Daß ein Regime zusammenbricht, weil die Bürger weglaufen, ist eine deutsche Spezialität. Die kollektive Flucht der Dagebliebenen aus der DDR: das Herüberholen, Herüberwählen des bundesdeutschen Modells gehört aber ebenso hierher, wie die Abstimmung mit den Füßen durch das ungarische Loch im Eisernen Vorhang. „Revolution über die Grenzen“ setzt die Latenz des fortbestehenden Deutschlands voraus, wenigstens rechtlich, in Form der im Westen aufrechterhaltenen gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Alles dies ist in Polen, Ungarn, Rumänien oder der Sowjetunion undenkbar.
Selbst die Flucht in die westdeutsche Identität ist nur dann und insoweit eine Flucht, als sie die Gemeinsamkeit der fortbestehenden Doppelidentität unterschlägt. Um noch einen Punkt drauf zu setzen: Wer in der DDR Kohl wählte, bewegt sich nicht nur im Kontinuum des allgemein-menschlichen Reflexes, von der Verlierer- auf die Gewinnerseite zu wollen – „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ hatte sich eben als falsches Erfolgsversprechen entpuppt. Wer in der DDR – und danach in den fünf neuen Bundesländern – Kohl wählte, handelte im Horizont der DDR wenn nicht revolutionär so doch radikal, weil er der realen Systemalternative zur Macht verhilft. Auch daß dies bei uns im Westen genau umgekehrt erscheint, ist nur ein weiteres Rädchen derselben Erklärungsmechanik.
Dabei stellt die BRDisierung der DDR ein politisches Real- Experiment dar, das seinesgleichen nicht kennt. Bei der Einführung der Kernenergie sind immerhin Risikoanalysen vorgeschrieben. Die politische Systemchirurgie , die Entkernung einer ganzen Gesellschaft wird dagegen ohne Netz und Narkose am lebenden Patienten vollzogen. Abbau, Umbau und Aufbau müssen ineinander verzahnt vorangetrieben werden. Die Gewerkschaften beispielsweise müssen, um wirksam tätig werden zu können, die Macht errichten helfen, deren Gegenmacht sie werden wollen. Sie müssen Arbeitslosigkeit hinnnehmen, den privaten Investoren die Hand küssen, um langfristige Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen. Wie wird eine staatliche Zwangswirtschaft entflochten? Wie wird privatem Kapital das Nest bereitet? Diese Fragen müssen nicht nur überhaupt gelöst werden, sondern kommen im sozialpolitischen Milieu der Frage gleich: Wie kann das Papsttum evangelisch werden?
Die Einrichtung der civil society bedeutet die Zerschlagung von Machtapparaten bedeutet die Schaffung eines unabhängigen Rechtssystems, eigenständiger Länderparlamente, –regierungen und –verwaltungen mit föderativer Bildungs- und Kulturhoheit. Auf diese Weise wird auch das alte soziale Netz, diese fast japanische Betriebsgemeinschaft mit Arbeitsplatzgarantie, zerreißen. Eine ganze Gesellschaft wird freigesetzt aus der Kontrollfürsorge des Kaderstaates. An die Stelle der Gesinnungslaufbahn tritt das individualisierende Leistungsprinzip mit seinen Inszenierungszwängen. Die einzelnen müssen sich im Dickicht der Optionen und der darin versteckten Zwänge ihren Weg bahnen, ihre Biographie zusammenbasteln. Das heißt, der Systemwechsel vollzieht sich als massenhafter, allerdings nicht kollektiver Biographiebruch. Dieser spaltet die Generationen, begünstigt Junge, benachteiligt Alte, zwingt alle dazu, die Gesellschaft in ihnen, die Orientierungen und Koordinaten, auszuwechseln. Bei alledem bleiben die gravierenden Ungleichheiten zwischen den Teilen Deutschlands ja nicht nur äußerlich erlebbar. Die bundesdeutschen Besserwisser und Entwicklungshelfer werden vielmehr auf allen Ebenen für die gleichen Tätigkeiten nach westdeutschen Reichtumsmaßstäben entlohnt und sozial gesichert, während die ostdeutschen Azubis sich mit einem Bruchteil davon begnügen müssen.
Schließlich überlagern sich in den neuen Bundesländern die Herausforderungen und die Konfliktlogiken der ersten und der zweiten Modernisierung: der sozialen und der ökologischen Frage. Das Gemisch der Jahrhunderte, das hier entsteht, widersetzt sich der Deutung. Das aber heißt mindestens auch: Die BRDisierung der DDR ist noch für einige Überraschungen gut. Einerseits muß im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit der Reichtum überhaupt erst einmal geschaffen werden, der den Müll produziert, den wir beklagen. Andererseits sind die sozialistischen Waldskelette nicht umstandslos durch einen Plastikwald vom Reißbrett zu ersetzen, der die Binnennachfrage anheizt. Gewiß, alles drängt in das schlüsselfertige Erfolgsmodell Bundesrepublik einzuziehen. Vielleicht aber erzwingt dies gerade, die Langsamkeit der Herkunft, die man abstreifen will, muß, neu zu entdecken, um nicht auch noch durch die Wiederholung der Fehler vom Weltmeister Bundesrepublik auf Dauer deklassiert zu werden. Also: Das alte industrielle wird mit einem neuen, unbekannten Spielregelsystem durchmischt. Man spielt Mensch-ärgere-dich und Blinde-Kuh in einem.
III.
Die Prognose, die sich aus dieser Skizze gesellschaftlicher Unübersichtlichkeiten ableiten läßt, bleibt doppeldeutig: Einerseits krönt die Auflösung der DDR die Bundesrepublik. Der Fahnenwechsel der DDR raubt der BRD die Selbstzweifel, die die Deutschen-West von Anfang an gequält haben. Zugleich entzieht sie der alten Systemopposition der Bundesrepublik die Grundlagen. Wir kennen bisher nur den in Konkurrenz mit der Arbeiterbewegung, den Arbeiterparteien und nicht zuletzt auch dem sozialistischen Lager ertrotzten wohlfahrtstaatlichen „Spätkapitalismus“. Der Weg des Kapitalismus ohne sozialistische Utopie ist bislang unbekannt. Was ja nicht nur heißt, daß ein paar Aktivisten und Intellektuellen die Ziele abhanden gekommen sind, sondern praktisch-politisch: daß Auseinandersetzungen um die soziale Frage, notwendige Reformen und Reorganisationen des Sozialstaates – auch angesichts der mobilen Armut über Grenzen und Kontinente hinweg – in Zukunft ohne das Schlüsselwort „Sozialismus“ auskommen müssen.
In einem sehr konkreten Sinne wird von der Leichenfledderei der DDR, die nun auf Jahre die Öffentlichkeit beschäftigen wird, ein Glanz auf die Bundesrepublik ausgehen, der alle Zentralkritik als abwegig, böswillig erscheinen läßt. Wenn man die alten Koordinaten zugrundelegt, wird das entstehende, wirtschaftsmächtige Deutschland ein Land ohne Opposition. An der Schnellvereinigung war diese Abwesenheit von Opposition schon beängstigend beobachtbar. Nicht die Schnellvereinigung als solche, sondern das Verteufeln der Opposition dagegen, war kein guter Auftakt für das europäische Deutschland, das nun überall beschworen wird. Was soll diese mit Larmoyanz untermischte Drohung, daß die Linke in Deutschland national unzuverlässig sei? Die in dieser Behauptung mit Larmoyanz vermischte Drohung verweist darauf, daß das Zusammenspiel von Pro und Kontra in einem Deutschland jenseits des Ost- West-Gegensatzes noch nicht gefunden ist.
Doch richtig ist andererseits auch: Die Transplantation des bundesdeutschen Aufbau- und Wachstumsmythos trifft heute auch überall auf Folgenbremser, Zweifler, Umdenker in allen Bereichen, Etagen, Themen gesellschaftlicher Entwicklung, die nach Wegen in eine andere Moderne suchen. Allerdings, dies bedeutet auch: Die ökologische Frage läßt sich von keiner Partei monopolisieren. Für die Grünen wird es eng zwischen den Großparteien, die sich gern mit grünen Federn schmücken.
Mehrheitlich besteht der kleinste gemeinsame Nenner, der Hintergrundkonsens der westlichen Nachkriegsdeutschen offensichtlich fort im unbeirrten Glauben an die Vereinbarkeit von Wirtschaftswunder und privatem, politischem Konservativismus in der einen oder anderen Form. Jodelndes High Tech kann man diese sehr wirksame Mehrheitsutopie nennen, die das Vorgestern mit dem Übermorgen perfekt und ewig zu verschmelzen sucht. Wenn meine Diagnose stimmt, zerbricht dieser biedersinnige Supermodernismus an der durch ihn selbst entfachten Dynamik.
Zentral für das Begreifen der Zukunft wird eine erst noch zu entfaltende Unterscheidung zwischen einfacher und reflexiver Modernisierung. Einfache Modernisierung extrapoliert vom Vorgestern aufs Übermorgen, denkt den gesellschaftlichen Entwicklungspfad unilinear, und zwar in den Formen und Variablen der Industriegesellschaft. In dieser wandelt sich alles, dauernd, aber am Ende entsteht immer wieder eine Industriegesellschaft: Wandel ohne Wandel. Reflexive Modernisierung meint dagegen, die Erosion der Grundlagen, die Verschiebung der Koordinaten im Zuge eigendynamischer Modernisierungsprozesse. Beispielsweise die ökologische Konfliktlogik, der technische Gesellschaftswandel verändert die Sozialstruktur, die Interessen und Orientierungen über die alten Gräben der industriellen Weltordnung hinweg. „Das ist ja zum Katholischwerden“, entfuhr es einer Feministin im Streit um die sozialen Folgen der Fortpflanzungsmedizin. Genau das ist der Wirbel reflexiver Modernisierung.
„Modernisierung“, das wurde bislang immer in Abgrenzung gedacht zur Welt der Überlieferungen und Religionen, als Befreiung aus den Zwängen der unbändigen Natur. Was aber geschieht, wenn die Industriegesellschaft sich selbst zur „Tradition“, zum „Naturzwang“ wird? Wenn ihre eigenen „Notwendigkeiten“, „Unverzichtbarkeiten“ mit derselben Rücksichtslosigkeit und Eigendynamik zersetzt, aufgelöst werden, wie die Möchte-gern-Ewigkeiten früherer Epochen? Nein, wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang der Moderne. Die Moderne hat noch gar nicht richtig begonnen. Ist das überhaupt möglich: eine nur moderne Gesellschaft? Was sind ihre Konflikte, ihre Problemlagen, ihre Handlungschancen, ihre Ideologien, Bornierungen und Neurosen?
Diese Perspektive reflexiver Modernisierung bestreitet den konkurrierenden Theorien den diagnostischen Biß: Gegen Krisentheorien wendet sie ein, daß die drängenden Fragen nicht Ausdruck von Krisen, sondern von Siegen des Industrialismus sind. Gegen den Funktionalismus behauptet sie die Selbstnormalisierung der Industriegesellschaft. Gegen Theorien der Postmoderne besteht sie darauf, daß die Moderne erst beginnt. Und gegen die Theorien von sozialen und ökologischen Grenzen verweist sie auf den Prämissen- und Koordinatenwechsel der industriellen Moderne.
Im Zusammendenken liegt die Wahrheit: Der Konflikt, der die Zukunft zeichnet, wird nicht mehr der von Ost und West, von Kommunismus und Kapitalismus sein, sondern der zwischen den Ländern, Regionen und Gruppen auf dem Weg in die „alte“ Moderne und denen, die in Erfahrung der Moderne dieses Projekt selbstkritisch zu relativieren und reformieren suchen. Es wird der Konflikt zweier Modernen sein, die um die Vereinbarkeit von Überleben und Menschenrechten für alle Erdenbürger streiten. Das entstehende Deutschland wird ein Deutschland der Ungleichzeitigkeiten, das diesen europäischen, ja globalen Konflikt in sich austragen muß.
Dieser politische Konflikt ist persönlich, alltäglich und prinzipiell, und zwar auf allen Ebenen: lokal, kommunal, national, international, bündnisdiffus, bündnisfluktuierend, ohne erkennbare Kompromißprinzipien. Das Ertragen von unauflöslichen Widersprüchen, die Welt vom Gegenblickpunkt aus betrachten – diese Fähigkeiten und Bereitschaften sind nie so dringend und zugleich nie so gefährdet gewesen, wie in diesem bevorstehenden Konflikt der zwei Modernen, in dem die Menschen lernen müssen, neben sich zu stehen, über sich zu lachen. Es geht um Selbstbegrenzung – das heißt: um eingestandene Imperfektion. Insofern steht uns in Deutschland einiges bevor.
Ulrich Beck ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Sein neues Buch „Politik in der Risikogesellschaft“ erscheint Anfang des Jahres.
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