MULTIPOLARE WELT: Auf dem Weg zu einer instabilen Welt
In der Dritten Welt wird zwar nicht mehr in Statthalterkriegen der Ost-West-Konflikt ausgefochten, doch in der Folge werden die blutigen Regionalkonflikte eher zu- als abnehmen. Und mit dem Ende des Kalten Krieges wird auch die Nord-Süd-Konfrontation zu einer greifbaren Bedrohung. Die zunehmende Selbstgenügsamkeit des Nordens kann sich mit der fortschreitenden Verarmung des Südens zu einem explosiven Cocktail mischen. Denn nur bei der Verfügung über atomare und chemische Waffen hat sich die Kluft zwschenord und Süd entscheidend verringert. ■ VON FRANCOIS HEISBOURG
Die Jahre 1989 und 1990 markieren die Ablösung der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten internationalen Ordnung durch ein unstrukturiertes, veränderbares und instabiles System.
Wenn auch die alte bipolare Weltordnung unzählige Opfer forderte und daher unakzeptabel ist, hatte sie doch den Vorteil der Einfachheit und einer großen Stabilität: Es wurde unausgesprochen vorausgesetzt, daß Moskau und Washington ausgleichend eingreifen würden, sobald lokale Konflikte eine direkte Konfrontation der Supermächte herbeizuführen drohten. Das Ende der Ost-West-Konfrontation führt uns bis zu einem gewissen Grad zurück in eine Welt von Groß- und Regionalmächten, deren Hierarchie abhängig von den jeweiligen Problemen und Orten variiert; in dieser multipolaren Welt bleiben die Vereinigten Staaten eine Kategorie für sich, denn die Grundlagen des amerikanischen Einflusses sind stark und vielfältig.
Die Zeit ist jedoch nicht gekommmen, alte Einflußbereiche wiederherzustellen: Die Internationalisierung der Wirtschaft führt zu Interdependenz, nicht zur Bildung neuer regionaler „Blöcke“. Auch wird es keine Rückkehr ins pränukleare Zeitalter geben. Durch die Verbreitung atomarer Waffen steht bei bestimmten Regionalkonflikten sehr viel mehr auf dem Spiel als zuvor. Die mäßigende Wirkung der Atomwaffen, wie sie sich während der Ost-West-Konfrontation gezeigt hat, läßt den Schluß nicht zu, daß ihre Abschreckungsfunktion auch bei Auseinandersetzungen in der Dritten Welt eine Katastrophe verhindert: Konflikte zwischen Ländern, die die Atombombe besitzen – wie etwa Indien und Pakisten – könnten verheerende Folgen haben.
Ungeachtet der enormen Unterschiede zwischen den Nationen in bezug auf Reichtum und Einfluß, ist in den letzten Jahrzehnten die Kluft zwischen ihnen teilweise geschlossen worden, wenn es darum geht, Vernichtungsinstrumente zu erwerben und ein hochtechnisiertes Militärpotential aufzubauen. Es ist also die Umkehr einer Entwicklung zu beobachten, die vor einigen Jahrhunderten eingesetzt hat. Ein Beispiel von vielen, um dieses Phänomen zu illustrieren: Die Niederschlagung der Pro-Nazi-Rebellion eines Rachid Ali im Irak im Jahre 1941 war ein Kinderspiel verglichen mit den heutigen Gefahren in der gleichen Region.
Im entstehenden multipolaren System zeichnet sich vor allem das fehlende Engagement der Supermächte ab, bei Konflikten nach bewährter Ost-West-Logik Partei zu ergreifen: Zentralamerika, im südlichen Afrika, der israelisch-arabische Konflikt. Moskau und Washington besinnen sich wieder mehr der Wahrung nationaler Interessen, ohne sie der Konkurrenz zweier Gesellschaftsmodelle unterzuordnen. Auch werden die beiden Länder künftig – aus eigennützigen Interessen – um Stabilität in jenen Gebieten bemüht sein, die für ihre wirtschaftliche und strategische Sicherheit entscheidend sind: Das zeigt die Reaktion auf die Invasion Kuwaits durch den Irak. Ebenso könnten sie zu der Überzeugung kommen, kostspielige Konfliktherde in peripheren Interessengebieten gemeinsam zu beseitigen, etwa in Südafrika oder Namibia.
In Anbetracht dieser Entwicklung genereller Zusammenarbeit der beiden mächtigsten Länder, kommt die Wiederentdeckung der Vorzüge der Vereinten Nationen nicht überraschend. Nach den Enttäuschungen der Nachkriegszeit könnte für die Organisation ein glückliches Zeitalter anbrechen, vorausgesetzt der Sicherheitsrat kann die Rolle festigen, die er in der Folge der irakischen Invasion in Kuwait gespielt hat.
Es besteht gegenwärtig die Gefahr, daß die Konflikte im Süden zunehmen werden, da der Druck des bipolaren Systems zur Zurückhaltung verschwunden ist. Der Krieg zwischen dem Irak und Iran von 1980 bis 1988 war ein blutiger Vorläufer dieser Art der Konfrontation, die Golfkrise ist die erste, modellhafte, große Auseinandersetzung seit Ende des Kalten Krieges. Diese Konflikte sind nicht auf eine wie immer geartete äußere Einmischung der Industrieländer zurückzuführen, selbst wenn diese sich im Nachhinein entschließen, einzugreifen. So ist für die Völker der betreffenden Regionen der Moment gekommen, sich mit der Verantwortung ihrer eigenen Regierungen intensiv zu befassen, einer Verantwortung, die die Regierungen bisher den Interventionen der Supermächte überlassen haben. In der nahen Zukunft ist es ein reales Risiko, daß – vor allem in den Ländern des Südens – anarchische Zustände in die internationalen Beziehungen Einzug halten. Das ist es, was bei dem Irak- Konflikt vor allem auf dem Spiel steht: Wenn die Souveränität und territoriale Integrität Kuwaits nicht wiederhergestellt werden, können nur wenige aus der Entkolonialisierung hervorgegangene Staaten ihrer Grenzen, sprich: ihrer Existenz als souveräner Staat sicher sein. Aus dem vorläufigen Entwurf eines neuen Systems internationaler Beziehungen nach dem Kalten Krieg geht nicht hervor, ob in strategischer Hinsicht die Ost- West-Polarisierung durch eine geopolitische Nord-Süd-Teilung abgelöst wird. (Viele Faktoren deuten zweifellos auf einen geopolitischen Riß von Gibralter bis zum Himalaya hin, der den in finsterer Erinnerung bleibenden „Eisernen Vorhang“ ablöst. Auch der demographische Druck aus dem Süden und die enorme Kluft zwischen den reichen Industrienationen des Westens und den armen Ländern sind nicht zu übersehen. Der Zusammenbruch der Ost-West-Mauer – der den Weg für neue Bevölkerungsbewegungen öffnete – und die möglichen Entkolonialisierungskonflikte in der Sowjetunion werden diesen Verschiebungen einen neuen Stempel aufdrücken. Dazu kommt der religiöse Aspekt. Der Norden mit christlicher Tradition mag in der fortschreitenden militanten islamischen Bewegung eine Bedrohung sehen, während der Süden seinerseits versucht sein könnte, gegen die „neuen Kreuzritter“ zu mobilisieren. Der Norden (Nordamerika, Europa, Nordostasien) scheint seine relative Selbstgenügsamkeit zu akzentuieren, was den Süden wirtschaftlich immer mehr an den Rand drängt, wie es die langfristige Entwicklung der Handelsströme belegt, die zu 80 Prozent unter den Industrienationen stattfinden. Der Cocktail könnte explosiv sein. In dieser sich anbahnenden Teilung stellt der Nahe Osten die wichtigste Herausforderung der strategischen Stabilität dar. Die Verfügung einiger Länder der Region über chemische und auch atomare Waffen sowie ballistische Raketen kann zu einer Explosion führen, die eine Kettenreaktion von Konflikten auslöst: zwischen Israel und den Palästinensern, Israel und den arabischen Staaten, dem Iran und den arabischen Staaten, den arabischen Staaten untereinander, dem Irak und der UNO... Diese Kettenreaktion ist eine der Gefahren, die die Invasion Kuwaits mit sich gebracht hat.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren kann dazu führen, daß ein echter Nord-Süd-Konflikt droht, zumindest im Mittelmeerraum und in Eurasien. Eine solche Auseinandersetzung ist – vielleicht – vermeidbar, wenn eine langfristige Politik erarbeitet und von beiden Seiten befolgt wird. Die Industrieländer müssen vor allem daran interessiert sein, den notwendigen Reichtum zu schaffen, um mit dem überschüssigen Kapital die Entwicklung des Südens voranzutreiben, in Form von Hilfsleistungen, besonders aber durch produktive Investitionen. Ebenso wünschenswert ist die maximale Öffnung der Märkte zugunsten der Produkte des Südens. Des weiteren sollten die Länder des Nordens nicht der bequemen Versuchung nachgeben und einen Ersatzfeind für die Sowjetunion finden, wie auch der Süden nicht das geringste Interesse daran haben kann, sein Schicksal dem erstbesten Despoten zu überlassen, der sich als Retter der Dritten Welt aufspielt und seine nächsten Nachbarn überfällt.
Nicht zuletzt lehrt uns die Geschichte der letzten vierzig Jahre den Bankrott von Einparteiensystemen und staatsfixierten Entwicklungsschemata, ungeachtet der Rechtfertigungen, die für sie angeführt werden mögen. Es ist kein Zufall, daß von allen Ländern in Afrika praktisch nur Botswana und Mauritius politischen und wirtschaftliche Pluralismus kennen und, im Gegensatz zu allen anderen Ländern des Kontinents, befriedigende Resultate erzielen. Sucht man nach den für erfolgreiche Entwicklung notwendigen Bedingungen, geht man besser nach Taipeh als nach Peking, nach Seoul statt nach Pjöngjang. Ohne diese Vorbedingungen gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung, keine nennenswerten Auslandsinvestitionen.
Diese Beobachtung ist allgemeiner Natur und trifft auch auf die Länder vom Atlantik bis zum Indus zu: Warum ist Demokratie dort nicht möglich und wirtschaftliche Stagnation (abgesehen vom fragilen Reichtum, den einige Länder dem Erdöl verdanken) unausweichlich? Solange der Pluralismus nicht Wurzeln faßt, werden die Menschen in dieser großen Region weiterhin Opfer tödlicher Auseinandersetzungen sein, ohne Hoffnung auf eine dauerhafte politische Lösung. Ohne die Errichtung eines Rechtsstaates gibt es keine Möglichkeit, Konflikte zu regeln; sogar mit rechtsstaatlichen Systemen wird das noch lange nicht selbstverständlich sein. Im Nahen Osten wird es so lange immer wieder Kriege geben, wie die Völker nur die Wahl zwischen einem autoritären, mitunter barbarischen Nationalismus und einem rückschrittlichen Integrismus haben.
Sicher wird die „Demo-Politik“ nicht die „Realpolitik“ beseitigen, denn die internationalen Beziehungen bleiben weiterhin auf das Verhältnis der Kräfte gegründet. Wenn sich demokratische Werte jedoch durchsetzen, kann eine Situation geschaffen werden – und das Europa von heute ist der Beweis dafür –, wo divergierende Interessen zwischen Staaten mit einem annehmbaren Risikoniveau geregelt werden und die friedliche Lösung von Streitfragen möglich ist.
Es geht darum, all jenen Kräften zum vollen Durchbruch zu verhelfen, die die erstarrte Ordnung des Kalten Krieges erschüttern konnten; und wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, eine Nord-Süd-Konfrontation für unvermeidlich zu erklären, an der auf lange Sicht niemand ein Interesse haben kann.
Francois Heisbourg ist Leiter des International Institute for Strategic Studies in London
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen