: Zwischen Scharia und Coca-Cola
Quer durch alle Kulturen versuchen fundamentalistische Bewegungen der Krise ihrer Männlichkeit Herr zu werden/ Die Gewalt gegen Frauen wächst überall/ Doch im Schutz der rigiden Gesetze der Glaubenswächter haben sich Frauen aufgemacht, für ihre Gleichberechtigung zu streiten ■ Von Erica Fischer
Als das Oberste Gericht Indiens Mitte der 80er Jahre Mohammed Ahmed Khan zur Zahlung von Unterhalt an seine geschiedene 75jährige Ehefrau Shah Bano verurteilte, mit der er nahezu ein halbes Jahrhundert verheiratet gewesen war, kam es im ganzen Land zu gewalttätigen Massendemonstrationen von Muslime, die den „Islam in Gefahr“ sahen. Nach der Scharia, dem islamischen Familienrecht, dürfe eine geschiedene Frau dem ehemüden Gatten nur drei Monate lang finanziell zur Last fallen.
Die Zerreißprobe zwischen indischem Staat und patriarchaler muslimischer Familie wurde im Februar 1986 durch die Verabschiedung eines Sondergesetzes gelöst, das muslimische Frauen in Scheidungsfragen von der staatlichen Rechtsprechung ausnimmt und dem islamischen Familienrecht unterstellt. „Wenn ihr uns mit der Verabschiedung eigener Gesetze für muslimische Frauen mitteilen wollt, daß wir nicht Staatsbürgerinnen dieses Landes sind“, sagte die Arbeiterin Shah Jahan bei einer Kundgebung in Neu Delhi, „warum sagt ihr nicht klipp und klar, daß wir uns nach einem anderen Land umschauen sollen, nicht Hindustan oder Pakistan, sondern Auratstan: Frauenland.“ Die praktizierende Muslime war zur Frauenbewegung gestoßen, nachdem ihre Tochter vom Schwiegersohn ermordet worden war. Der Brautpreis hatte nicht seinen Vorstellungen entsprochen.
Der Präzedenzfall des Spezialgesetzes für muslimische Frauen regte auch andere Gruppen an, sich Straffreiheit für Gewalttaten an Frauen zu erkämpfen. Unter dem Vorwand, ihre Identität als regionale Kastengemeinschaft festigen zu wollen, lösten fundamentalistische Hindus im Staate Rajasthan eine Kampagne zur Legalisierung der vorgeblich traditionellen Praxis der Witwenverbrennung aus. Im Dorf Deorala, wo die 18jährige — nach Aussagen von Nachbarn gewaltsam zum Scheiterhaufen geschleppte — Witwe Roop Kanwar verbrannt wurde, entstand ein Wallfahrtsort mit Parkplätzen, Lautsprechern und Verkaufsständen mit geschmacklosen Devotionalien. Aus der Inszenierung einer antimaterialistischen Tradition mit dem Selbstopfer als Inbegriff weiblicher Hingabe wurde ein blühendes Geschäft. Die Bewegung, die den „Hinduismus in Gefahr“ sieht, wird von Parteien rechts von der Mitte hofiert.
Die Beschwörung der unwandelbar weiblichen Natur
Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche machen die Menschen anfällig für Bewegungen, die Sicherheit und Geborgenheit verheißen. Sie suchen das Heil in einer klar definierten religiösen, ethnischen, kulturellen, regionalen oder nationalen Identität. Eine zentrale Rolle bei dieser Suche nach Identität spielt die Frau, die als Verkörperung und Vermittlerin von Kultur und Tradition gilt. Der Mann, der durch die rasanten wirtschatlichen und sozialen Veränderungen aus der Bahn geworfen ist, braucht sie zur Festigung seines brüchig gewordenen Selbstwertgefühls. Die in allen Patriarchaten schwelende Angst vor der zerstörerischen weiblichen Sexualität steigert sich bei den Fundamentalisten zur Obsession. Durch radikale Verhüllung der Frauen, Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit außer Haus und Zuweisung einer klar umrissenen sozialen Rolle hoffen sie, der Krise ihrer Männlichkeit Herr zu werden. Quer durch alle Kulturen glorifizieren fundamentalistische Bewegungen die Mutterschaft und beschwören eine unwandelbare weibliche Natur.
Die Kontrolle und Zurichtung des Besitzstandes an Frauen erfolgt durch ideologische Propaganda, sozialen Druck und offene Gewalt. Seit der „demokratischen Öffnung“ Algeriens im Jahre 1989 und bestärkt durch den 60prozentigen Stimmenanteil der Islamischen Heilsfront (F.I.S.) bei den Kommunalwahlen im Juni 90 wacht eine „Moralbrigade“ über der Tugend algerischer Weiblichkeit. Im Namen Allahs werden ohne Mann lebende und nicht islamisch gekleidete Frauen Opfer von religiös motivierter Gewalt. Nassera Merah, Mitglied der „Vereinigung für die Gleichheit von Frauen und Männern vor dem Gesetz“, nennt einige drastische Beispiele: Einer alleinerziehenden Mutter aus Ouargla, einer Stadt 800 Kilometer südlich von Algier, wurde das Haus niedergebrannt. Ihr dreijähriger Sohn starb in den Flammen. In der Hauptstadt Algier wurde eine junge, geschiedene Frau im Haus ihrer Mutter von Aktivisten der F.I.S. vergewaltigt. Und eine Studentin aus einer Kleinstadt 50 Kilometer westlich von Algier wurde brutal zusammengeschlagen, weil sie angeblich ihr islamisches Gewand nicht vorschriftsmäßig trug. Sie ist Aktivistin der Kommunistischen Partei. Sogar für die Dürre und das Erdbeben im Oktober 89 wurde die mangelnde Zucht „westlich vergifteter“ Frauen verantwortlich gemacht.
In Algerien wird die Suche nach kultureller Identität mit besonderem Eifer betrieben. Historisch ist das verständlich, hatte doch Frankreich als Kolonialmacht versucht, die einheimische Kultur systematisch zu zerstören. Auch die Franzosen setzten bei diesem Entfremdungsprozeß auf die Frauen. Die Ausbildung der Mädchen und das Ablegen des Schleiers waren die Hauptinstrumente kultureller Unterwerfung. Widerstand gegen die französische Kolonialherrschaft hieß also immer auch, sich zu den Werten der eigenen Kultur zu bekennen. Mit dem Schlachtruf „Allah Akbar“ — Allah ist groß — begann in Algerien der nationale Befreiungskrieg, an dem die Frauen aktiv teilnahmen, mal tief verschleiert, mal europäisch gekleidet, je nach den strategischen Bedürfnissen der sozialistisch orientierten nationalen Befreiungsfront F.N.L. Und auch im unabhängigen Algerien nach 1962 wurde der Islam benutzt, um die Politik der regierenden F.N.L. zu rechtfertigen. Trotz jahrelangen Frauenprotests kam es 1984 zur Kodifizierung eines Familiengesetzes auf der Grundlage der Scharia, das unter anderem jeden Mann ermächtigt, stellvertretend für drei Frauen zu wählen.
Emanzipation unterm Schutz des Schleiers
Die Anbiederung der F.N.L. an die islamische Erretterfraktion ist dennoch frappierend. Bei einer Tagung der UNO-Universität in Helsinki zum Thema „Identitätspolitik und Frauen“ im Oktober 1990 ging die tunesische Soziologin Alya Baffoun der Frage nach, wer die fundamentalistischen Männer eigentlich sind. Viele der führenden Köpfe dieser Bewegung, sagte sie, seien keineswegs Produkte religiöser Indoktrinierung, sondern haben an modernen Universitäten studiert. Sie sind Ingenieure, Ärzte, Physiker, Professoren der Mathematik. Und obendrein waren viele von ihnen einst Kommunisten oder Trotzkisten. „Aus einem Trotzkisten, der an der Sorbonne studiert und an Versammlungen mit Mendés- France und Sartre teilgenommen hat, wird plötzlich ein Fundamentalist“, wundert sich Alya Baffoun, „wie können wir einem solchen Menschen noch vertrauen?“ Die Tunesierin, die mit ihren entblößen Schultern so ziemlich genau dem fundamentalistischen Negativbild der Importemanze entspricht, vermutet den Schlüssel für diese „180-Grad- Kehrtwendung“ in einer Abrechnung mit dem herrschenden Westen. Eine Botschaft von Mann zu Mann.
Für die gebildeten Frauen der maghrebinischen Mittel- und Oberschicht wirken die islamischen Kleidungsvorschriften wie „eine symbolische Beschneidung“. Doch viele Frauen der aufstrebenden unteren Mittelschicht sehen den Schleier keineswegs als männliche Unterdrückungsmaßnahme. In der Türkei bildet die „Turbanbewegung“ der Frauen an den Universitäten den Kern fundamentalistischer Mobilisierung. Kopftuch und langer Mantel sind für sie eine Art Uniform, vergleichbar mit den Blue Jeans, die den Klassenunterschied „verschleiern“ und Möglichkeiten gesellschaftlichen Aufstiegs bieten. Der strenge fundamentalistische Verhaltenskodex bietet in traditionell geprägten Ländern wie Pakistan Männern und Frauen den Spielraum, den sie brauchen, um die aus materiellen Gründen notwendig gewordenen Überschreitungen der herkömmlichen Geschlechterrollen psychisch zu bewältigen. Der Mann bleibt auch dann noch Boß, wenn die Frau außer Haus arbeiten muß, die Frau fühlt sich vor den Anfechtungen der bedrohlichen Außenwelt abgeschirmt.
Unter dem Schutz des Schleiers und mit der Identität eines antiwestlichen Wir-Gefühls bewaffnet, haben Frauen in vielen islamischen Ländern begonnen, sich politisch einzumischen und Selbstbewußtsein zu entwickeln. In Pakistan, wo es eine starke Frauenbewegung gibt, gehen fundamentalistische Frauen, die noch vor kurzem demonstrierende Feministinnen als Huren beschimpften, nun selbst auf die Straße, um Frauenrechte nach muslimischem Gesetz einzufordern. Während sie in der Anfangszeit nur Marionetten am männlichen Gängelband waren, tun sich heute Widersprüche zu ihren Mitstreitern auf. So war die Position fundamentalistischer Männer der ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto gegenüber eindeutig: Da der Islam eine Frau als Regierungschefin nicht dulde, habe sie auf diesem Posten nichts verloren. „Aber ich habe keine einzige fundamentalistische Frau getroffen, die so argumentiert hätte“, erzählte in Helsinki Khawar Mumtaz, Professorin an der Universität Lahore und Mitglied des internationalen Solidaritätsnetzwerks „Frauen unter muslimischem Recht“. „Sie haben Benazir Bhutto kritisiert, weil sie keine muslimischen Gesetze erlassen hat, aber sie haben ihr niemals das Recht abgesprochen, Premierministerin zu sein.“
Für eine muslimische Frau sollte es Lebensaufgabe sein, sich um die Kinder und Männer im Haushalt zu kümmern und ihren Ehemann als Familienoberhaupt zu ehren. Ohne Einwilligung des Mannes sollte sie weder das Haus verlassen noch Besuche empfangen oder mit Fremden sprechen. Die ihr innerhalb dieser Grenzen übertragene große soziale Verantwortung ist Teil des göttlichen Plans. Das ist die Ideologie. Doch unter dem Druck der gesellschaftlichen Notwendigkeiten hat sich dieses Frauenbild als erstaunlich flexibel erwiesen.
Um mit der modernen Zeit Schritt zu halten, hat die Nationale Islamische Front des Sudan das Bild der modernen islamischen Frau geschaffen, die berufstätig ist, an der Universität studiert, sich politisch betätigt und Auto fährt. Die Frauen bilden heute das Rückgrat der Nationalen Islamischen Front. „Wir unterscheiden uns kaum von amerikanischen Feministinnen“, teilte eine führende sudanesische Fundamentalistin der verblüfften US-amerikanischen Sozialwissenschaftlerin Sondra Hale mit, „auch wir hassen Männer. Wir kennen unsere Rechte, wir haben den Koran und die Scharia studiert. Wir arbeiten in der N.I.F., um die Lage der Frauen zu verbessern und, um der Welt mitzuteilen, daß wir genauso tüchtig, gebildet und großartig sind wie Männer.“
In Indien demonstrierten Hindu- Frauen mit dem makabren Slogan „Wir, die Frauen von Indien, sind nicht Blumen, sondern Funken“ für das Recht von Witwen, sich verbrennen zu lassen. „Die Feministinnen, die bei dieser Demonstration anwesend waren“, erzählt die indische Soziologin Radha Kumar, „mußten gedemütigt feststellen, wie leicht unsere eigenen Worte gegen uns gekehrt werden können.“
Fremdgesteuerte Agentinnen des Westens
Feministinnen aus fundamentalistisch dominierten Ländern, die auf einen säkularen Staat bestehen, der den Frauen bürgerliche Grundrechte sichert, sehen sich hoffnungslos an den Rand gedrängt und als fremdgesteuerte Agentinnen des kapitalistischen Westens diffamiert. Ihrer Forderung nach Gleichheit und Selbstbestimmung wird auch von linken Männern ein vorkapitalistisches, am Kollektiv orientiertes Denken und Handeln entgegengesetzt. Denn für Männer ist Autonomie kein Problem. Doch Wissenschaftlerinnen aus Ländern der Dritten Welt machen auf die Doppelzüngigkeit dieser Argumentation aufmerksam. Zu Hause spielen sie den traditionellen Patriarchen, doch im Berufsleben können die Männer gar nicht anders, als sich der kapitalistisch-individualistischen Rationalität zu verschreiben.
Die bekannte marokkanische Autorin Fatima Mernissi erklärt die Überreaktion maghrebinischer Fundamentalisten auf die zahlenmäßig keineswegs ins Gewicht fallenden forschenden und schreibenden Feministinnen mit der durchaus realen ideologischen Bedrohung, die von diesen Frauen ausgeht: „Wir Feministinnen stehen für Individualismus und Autonomie. In den Augen der Männer bedeutet das Subversion, denn wir könnten uns ja auf den erstbesten Mann stürzen. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir kommen von dieser westlichen Konsum-, Coca- Cola- und Schuldengesellschaft nicht los. Wir verkörpern dieselben Interessen.
American way of life — der einzige Ausweg für Frauen aus der fundamentalistischen Bedrohung? Ein gewagter Gedanke.
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