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»Keiner sagt uns, was wir tun sollen«

■ Ostberlins Schüler verurteilen zwar den Krieg, protestieren aber sehr verhalten/ Neben Telefon fehlt ihnen auch der Mut

Pankow. In der achten Klasse steht Deutsch auf dem Stundenplan derHermann-Dünow-Oberschule in Pankow. Der Lehrer Bernhard Huwe schlägt den Bogen von Hermann Hesses »Merkwürdige Nachrichten von einem anderen Stern« zum Kriegsherd am Golf. Die Schüler sind besser informiert, als er ahnt. Sie wissen, was der »Bündnisfall« ist, sie kennen die verheerenden Folgen des Krieges. Die Probleme in der Golfregion sollen gelöst werden, aber nicht mit Krieg, sagen sie.

»Was könnt ihr dagegen tun?«, fragt der Lehrer. Die Antwort: »Auf Demos gehen oder streiken, sonst nichts.« Aber so wie die Schüler in Hamburg, zwei Tage den Unterricht zu schwänzen, dazu hätten hier zuviele Angst. Da müßten dann schon alle mitmachen, sagt ein Mädchen. Einer kommt auf die Idee, an Eberhard Diepgen zu schreiben und zu fordern, daß die »BRD stärker gerichtlich gegen die Waffenlieferanten vorgeht«. Aber, wirft ein anderer ein, die Politiker seien doch nicht so dumm, daß sie davon nichts wüßten. Jemand fordert endlich die Info-Tafel aufzustellen, um Termine von Aktionen bekannt zu machen.

Die Ostberliner Schüler sind noch verunsichert. In West-Berlin rannten Zehntausende auf die Straße, während sie hier noch überlegten, was sie dürfen und was nicht. Zu den großen Demonstrationen, vorwiegend in West-Berlin, gingen sie eher vereinzelt, nicht organisiert. »Als ich mit einer Freundin nachmittags zur Demo gegangen bin«, erzählt Tanja, »haben viele über mich gelacht. Die haben einfach nicht kapiert, was dieser Krieg bedeutet.« Für sie ist die Gewißheit wichtig, irgendetwas getan zu haben. Es gibt keine Gemeinschaft an der Schule, nicht mal in der Klasse. Manche denken, der Krieg ist weit weg, schimpft Antje. Mit denen könne man nicht mal darüber diskutieren. Anderen erlaubtendie Eltern nicht, auf die Straßezu gehen.

Die Unsicherheit der Ostberliner Schüler wird durch fehlende Informationen verstärkt. Sie haben auch keine Mittel in der Hand, um sich zu verständigen. Oft wußten sie weder Zeit noch Ort von Protestaktionen. Zwar gibt es SchülersprecherInnen, die aber hatten keine Ahnung, wo sie sich informieren könnten. »Uns sagt ja niemand, was wir machen sollen«, beklagen sich die Schüler. Sie müßten sich erst umgewöhnen, geben sie zu, denn früher wurde ja alles von oben durchgestellt. Lehrer Huwe macht ihnen Mut, nicht darauf zu warten. Ganz nebenbei läßt er die Worte »ziviler Ungehorsam« fallen.

Das sich auch viele LehrerInnen umgewöhnen müssen, weiß die Direktorin Ilona Bart. Sie selbst nimmt sich da nicht aus. Als einige Schüler losmarschieren wollten, hat sie sich beim Schulamt erkundigt, was jetzt zu tun sei. Die Behörde verwies nur auf die sogenannte Aufsichtspflicht der Pädagogen im noch gültigen Schulgesetz der Ex-DDR. Außerdem benötigt die Schule für solche Aktionen die Erlaubnis der Eltern. Diese Zwänge drängen die Lehrer zwischen Gesetz und Schülerinteressen. In einigen Schulen wurden die Türen verschlossen und die Schüler nicht rausgelassen. An anderen gingen die Lehrer zusammen mit ihren Schülern auf die Demo. Ilona Barth nahm es auf ihre Kappe, als über die Hälfte der Schüler zur Amerikanischen Botschaft zogen. Der Rest machte normalen Unterricht. Als die Direktorin die Schüler auf die Mahnwachen und Veranstaltungen am Wochenende hinwies, waren nur wenige davon begeistert, in ihrer Freizeit gegen den Krieg zu demonstrieren. Auch Tanja meint, die meisten würden nur mitmachen, damit sie nicht zum Unterricht müßten.

Das Organisationsproblem kennt Thomas Vogt von der Erweiterten Oberschule Heinrich Herz zur Genüge. Er sitzt seit gestern im Koordinierungsbüro und ist mehr damit beschäftigt, Gerüchte und Falschinfos zu dementieren, als Demotermine durchzugeben. Das Aktionsbündnis Bildungs- und Erziehungsreform stellte den Schülern ihr Büro mit Telefon und Kopierer zur Verfügung. Jetzt laufen die Vorbereitungen für eine Sitzblockade heute um 12 Uhr auf dem Alexanderplatz. Vorher funktionierte das über eine »private Telefonkette des 30er-Rates der Erweiterten Oberschulen«, wie Thomas es nennt. Im 30er-Rat sind Schüler aller EOS vertreten, bisher wurde dieser aber kaum von Seiten der Behörden als Interessenvertretung der Schüler anerkannt. Thomas sitzt hier, auch eine Woche nach Kriegsbeginn, weil der Protest nicht abebben darf. Es trete ein gewisser Gewöhnungseffekt ein, gegen den sie in den nächten Tagen weiter Aktionen organisieren wollen. Er selbst war zwar in den letzten Tagen kaum in der Schule — ob das Folgen für ihn hat, weiß er nicht. Im Unterricht sei man aber schon zur Tagesordnung übergegangen. Dabei gebe es, ob in Chemie oder Gesellschaftskunde, genügend Möglichkeiten, an das wichtigste Thema dieser Tage anzuknüpfen. Anja Baum

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