: Es geht um 0,000000000001 Gramm
Bundesgesundheitsamt und Umweltbundesamt haben eine neue brisante Bestandsaufnahme zum Ultragift Dioxin vorgelegt/ Krebsauslösende Wirkung des Dioxins kann nicht länger bestritten werden/ Realität hat Grenzwerte längst überholt ■ Von Manfred Kriener
Das als „Sevesogift“ bekannt gewordene Dioxin ist längst mehr als eine Chemikalie. Dioxin ist, wie der Kieler Toxikologe Otmar Wassermann sagt, zum „Krankheitssymptom der Industriegesellschaft“ geworden. Dioxine sind ubiquitäre Substanzen, das heißt, sie sind überall zu finden. Sie begleiten unser Leben von der extrem belasteten Muttermilch bis zur letzten Tasse Kaffee aus dem chlorgebleichten dioxinhaltigen Filterpapier. Sie lauern in Computergehäusen und Fernsehgeräten, sie wehen aus Schornsteinen und sitzen im Ackerboden, sie sind in Käse, Ei und Schinken ebenso enthalten wie in der Milch und in der Milchtüte. Schon winzige, kaum noch vorstellbare Mengen des Giftes können schwere gesundheitliche Schäden auslösen bis hin zu bösartigen Tumoren und Mißbildungen bei Neugeborenen.
Die Studie lag sechs Monate auf Eis
Mit ihrem gemeinsamen „Sachstandsbericht“ zu Dioxinen haben Bundesgesundheitsamt (BGA) und Umweltbundesamt (UBA) jetzt ein neues Kapitel im Kampf gegen das allgegenwärtige Ultragift aufgeschlagen. Bis zu Bodenaustauschprogrammen und Verboten für landwirtschaftlichen Anbau reicht der Forderungskatalog der beiden Bundesbehörden. Mit diesen Maßnahmen soll die tägliche Dioxindosis des Bundesbürgers auf weniger als die Hälfte gesenkt werden. Sechs Monate lag die brisante Studie auf Eis. Freiherr von Lersner, Chef des Berliner Umweltbundesamtes, hatte die Veröffentlichung blockiert. Doch nach halbjähriger Sendepause konnten sich die UBA-Beamten schließlich gegen ihren Chef behaupten und die Veröffentlichung durchsetzen. Zum Jahresbeginn wurde die Studie nochmals überarbeitet und mit einem Kapitel über die umstrittene Chlorchemie komplettiert. Von ihrer Brisanz hat sie nichts verloren.
Ein Zahlenungetüm mit nicht weniger als zwölf Nullen markiert einen zentralen Punkt des Berichts: Auf ein Pikogramm Dioxin, das ist ein billionstel Gramm, also 0,000000000001 Gramm, haben die beiden Berliner Ämter den Richtwert für die gerade noch tolerierbare tägliche Dioxinbelastung beim Menschen je Kilogramm Körpergewicht gelegt. Doch der durchschnittliche Bundesbürger, auch dies offenbart die neue Bestandsaufnahme, kriegt heute im Durchschnitt fast das Doppelte ab, Babies in der Stillphase sogar das 80- bis 90fache.
Daß Dioxine Krebs erzeugen können, wurde lange bestritten. In der neuen Studie weisen die Autoren nun darauf hin, daß diese Negierung nicht mehr haltbar ist. Es gebe „ernst zu nehmende Hinweise“ auf krebsauslösende Wirkungen. Dioxin müsse deshalb als kanzerogene Chemikalie in die Vorschriften für Arbeitsplätze aufgenommen werden.
Einzelne Tierarten reagieren unterschiedlich
Um die Toxizität, also die „Giftigkeit“ einer Chemikalie zu bestimmen, wird in der Regel der Tierversuch herangezogen. Auf Dioxine reagieren die einzelnen Tierarten allerdings sehr unterschiedlich. Ein Meerschweinchen ist zum Beispiel 10.000mal empfindlicher als ein Hamster. Vergleichsmaßstab für den Menschen ist häufig die Ratte, weil dieser Nager eine ähnliche Sensitivität gegen das Ultragift besitzt. Mischt man unter das Futter von Ratten täglich 10 Nanogramm Dioxin, bilden sich bösartige Tumore an Leber, Lunge, Nase und Schilddrüse. Senkt man die Dosis weiter ab, kann man ermitteln, ab welcher Dosis sich keine Krankheitssymptome mehr zeigen, nämlich bei einem Nanogramm (ein milliardstel Gramm). Um von dieser Zahl ausgehend die gesundheitlich unschädliche Dosis für den Menschen zu ermitteln, wird üblicherweise ein Sicherheitsabstand gewählt, der zwischen den Faktoren 100 und 1.000 liegt. Angesichts der verheerenden biologischen Aktivität von Dioxin schlägt die Berliner Studie den Faktor 1.000 vor und kommt so zu dem Grenzwert von einem tausendstel Nanogramm, also einem Pikogramm.
Muttermilch ist höher belastet als Kuhmilch
Zu mehr als 90 Prozent erfolgt die Dioxinaufnahme beim Menschen durch belastete Nahrungsmittel. Vor allem Käse und Milchprodukte, aber auch Fleisch und Fisch enthalten Spuren dieser Substanz, der man auch mit einem ausgeklügelten Speiseplan kaum ausweichen kann. Erwachsene Bundesbürger nehmen täglich fast zwei Pikogramm (pro Kilogramm Körpergewicht) auf, die sich im Körper summieren (anreichern), da Dioxine kaum abbaubar sind.
Babies sind noch weit schlimmer dran. Für die Jüngsten und Wehrlosesten spricht der Sachstandsbericht ungeschminkt von einer „dramatischen Überschreitung“ der noch tolerierbaren Schwelle. Muttermilch ist im Durchschnitt 20mal höher dioxinbelastet als Kuhmilch. Zwischen 80 und 90 Pikogramm Dioxin erhalten die Babies als tägliche Dosis, stellt die Berliner Studie fest. Angesichts der Brisanz dieser Situation bleibt den Autoren nur die Hoffnung, daß der positive Effekt durch das Stillen größer ist als der negative durch die Dioxinaufnahme des Säuglings. Jedenfalls wollen die Experten den Müttern trotz allem nicht vom Stillen abraten.
Die beiden Ämter beziffern die in der Bundesrepublik insgesamt jährlich ausgestoßene Dioxinmenge auf „über 10 Kilogramm“. Um diese alarmierend hohe Menge drastisch zu senken, wird in einem umfangreichen Maßnahmenkatalog neben der Chemie- und Metallindustrie auch die Landwirtschaft aufs Korn genommen. Hier verlangen die Autoren ein „grundsätzliches Verbot der Ausbringung von Klärschlamm auf landwirtschaftlich genutztes Grünland und im Feldfutteranbau“. Klärschlämme sind häufig stark mit Dioxinen verseucht. In einem Stufenplan werden außerdem Einschränkungen der landwirtschaftlichen Nutzung verlangt. Wenn die Böden mit mehr als fünf Nanogramm Dioxin kontaminiert sind, sollte auf den Anbau von Gemüse, Rüben und Feldfutter, auf Grasschnitt und Weidegang verzichtet werden. Welche Relevanz diese Forderung hat, wird in dem Bericht ebenfalls deutlich. Die Autoren weisen nämlich darauf hin, daß „große Teile“ der Ballungsräume bereits mit mehr als fünf Nanogramm verseucht sind.
Anbau von Gemüse und Viehfutter sofort stoppen
Das Beispiel Berlin macht die ganze Misere deutlich. Nach Angaben der Berliner Umweltverwaltung weist das Stadtgebiet eine durchschnittliche (!) Dioxinbelastung von bereits neun Nanogramm auf. Folgt man den Zahlen des neuen Dioxinberichts, müßte in ganz Berlin der Anbau von Gemüse und Viehfutter sofort gestoppt werden. Und noch eine Zahl: Würde man heute die Dioxinemissionen in Berlin auf Null bringen, würden die Böden dennoch 30 Jahre brauchen, um unter den 5-Nanogramm-Wert zu kommen.
Ab einer Dioxinbelastung von 100 Nanogramm verlangen UBA und BGA Bodenaustauschprogramme für Kinderspielplätze und Schulhöfe, ab 1.000 Nanogramm für Siedlungsgebiete. Auch diese Zahlen stehen nicht im luftleeren Raum. Nur ein Beispiel: In der Hamburger Bille- Siedlung wurden im Januar Dioxinwerte zwischen 1.000 und 5.000 Nanogramm (je Kilogramm Erdreich) bekannt. Dort steht jetzt die Umsiedlung der Bewohner an.
Die Chemieindustrie als Hauptverursacher der Dioxinbelastung wird in dem Kapitel zur Chlorchemie angegangen. Zur Stoffklasse der polychlorierten Dioxine gehören Verbindungen, die, wie schon der Name sagt, vor allem in der Chlorchemie entstehen. Hier hat sich die Studie die Position des Sachverständigenrats für Umweltfragen zu eigen gemacht, der mittel- bis langfristig eine „Rückbildung der Chlorchemie“ gefordert hatte. Diese Position ist nicht mehr allzuweit entfernt von dem seit Jahren von Umweltgruppen verlangten „Ausstieg“ aus diesem gefährlichen Produktionszweig.
Schließlich wird auch der weitverbreitete Problemstoff Polyvinylchlorid (PVC) attackiert. Die Entwicklung von Ersatzstoffen und der Verzicht auf immer mehr Anwendungen heißen hier die aktuellen Forderungen, die die PVC-Lobby aufheulen lassen.
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