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Gebeine in den Fluß

Dissidenten und Gemarterte. Über die Opposition der Intellektuellen in Albanien  ■ Von Ardian Klosi

Es ist in Albanien immer wieder von offizieller oder nichtoffizieller Seite wiederholt worden, es sei nicht gut, sich der Vergangenheit zuzuwenden: Wer zurückschaut, kann nur zurückbleiben. Ich will hier keine Polemik gegen die Demagogie führen, weil mit der Demagogie nur schwer umzugehen ist. Aber auch einfache Leute vertreten die Meinung, man müßte die Geschichte in Ruhe lassen: sonst würde nur Zorn und Wut ausbrechen, und es käme eine Katastrophe, da die betroffenen Menschen Rache nehmen würden.

Das ist absolut unwahr. Wir brauchen heute die Wahrheit über unsere Geschichte so wie wir unsere Luft, unser Wasser und Brot brauchen. Wir sind von den Metastasen eines Phänomens durchdrungen, das — falls es nicht bis zu seinen Wurzeln entdeckt wird — kaum jemals aus der albanischen Gesellschaft herausgezogen werden kann. Die Metastasen haben sich in der Wirtschaft ausgebreitet und sie lahmgelegt, unsere Kultur haben sie erstickt; sie sind vor allem in die Menschen selbst eingedrungen, haben sie traumatisiert und stumpf gemacht und ihnen nur einen Ausweg gelassen: auszuwandern, das eigene Land zu verlassen. Wir sind nicht die einzige Nation, die hinters Licht geführt wurde, die mit oder ohne unsere Zustimmung in eine Sackgasse geriet: Wir brauchen uns nur in Osteuropa umzusehen. Andererseits sind wir aber die einzige Nation, die ihren Blick eben erst zurückgeworfen hat, das heißt, wir sind mit Verspätung dran. Denjenigen, die in ihrer Naivität Angst vor der Geschichte haben, sagt unsere demokratische Bewegung: Hier geht es gar nicht darum, Listen aufzustellen, hier wird nicht den Verfolgten das Messer in die Hand gedrückt, damit sie ihre ehemaligen Peiniger töten. Im Gegenteil, wir wollen mit Ruhe und Logik ein System analysieren, das den Menschen Messer in die Hand drückte und sie aufeinander hetzte. Wenn bestimmte Namen Angst und Panik auslösen, dann kann man auch ohne Namen vorgehen. Nicht die Namen sind das Wichtigste in einem System, das blind funktioniert, in dem nicht nur die einfachen Bürger paralysiert leben, sondern selbst die Führenden, obwohl sie auf den ersten Blick satt und zufrieden erscheinen (man kann fast sagen: Gott hüte uns vor ihren Ängsten und Alpträumen!).

Wo sind die albanischen Havels, Solschenizyns, Pasternaks, wo die albanische Achmatowa?

Der Blick nach hinten dient also nicht der kanonischen Rache, sondern der Katharsis der Albaner, der graduellen Ausrottung des Bösen und einem neuen Beginn. Eines der wichtigsten Themen bei diesem Rückblick ist: Hat es in den letzten Jahrzehnten ein albanisches „Dissidententum“ gegeben?

Mehrmals ist mir diese Frage im Ausland gestellt worden: Wie ist es nur möglich, daß es in eurem Land keine Oppositionellen gibt? Menschen, die anders reden, schreiben, malen oder komponieren, als es die offizielle Bürokratie und die Normen des sozialistischen Realismus erlauben? Wo sind die albanischen Pasternaks, Solschenizyns, Kischs, Kunderas, Havels? Kursiert in Albanien unveröffentlichte, oppositionelle Literatur?

Ich habe mir selbst mehrmals den Kopf über diese Frage zerbrochen, ohne dafür eine genaue Antwort zu finden. In unserer Naivität, unseren Illusionen, die uns jahrelang eingehämmert wurden — „in Albanien herrscht nämlich stählerne Eintracht“, und „was die Partei sagt, das macht das Volk“ und „die Schriftsteller sind Unterstützer der parteiischen Führung“, und „die Methode des sozialistischen Realismus erbringt geniale Ausnahmen wie Ismail Kadare, die nur die Regel bestätigen“ usw. —, war unsere Vorstellung immer: In Albanien gibt es weder Dissidenten noch heimlich verbreitete Literatur. Dieser Eindruck wurde gleichzeitig durch das Informationsdefizit verstärkt, durch die systematische Verfälschung der Geschichte, das Einsperren der Autoren in Gefängnisse, der Ideen in den Giftschrank. Nun komme ich aber dank einiger bis jetzt verbotener Texte, die mir in die Hände gefallen sind, zu dem Schluß, daß ein albanisches Dissidententum nicht nur existiert, sondern überdies eine viel schmerzlichere, längere und unterdrücktere Geschichte hat als all seine Schwesterliteraturen aus Ost- und Südosteuropa.

Das albanische Dissidententum beginnt schon in den ersten Stunden der Installierung einer Macht und einer Ideologie, mit denen albanische Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler nicht einverstanden waren. Diese Macht hat bereits in ihren Anfängen die Existenz andersartiger Gedanken und Strömungen nicht akzeptiert. Wenn man auch für die Jahre 1946 bis 1947 äußerlich den Eindruck eines gewissen Parlamentarismus und einer freien Presse hat, so wurden gerade in diesen Jahren die übelsten Verbrechen gegen die albanische nichtkommunistische Intelligenz begangen. Es wurden Hunderte von ideologischen Gegnern verhaftet, gefoltert, ermordet, Menschen, die gegenüber ihrem Volk und ihrem Land nichts verbrochen hatten, die mit den Besatzern nicht kollaboriert hatten, deren einzige Schuld das Andersdenken gegenüber Menschen war, die an die Macht kamen. Hier kann ich einige wenige Beispiele nennen. Schon Ende des Jahres 1944 wurde nach grausamen Folterungen, nachdem seine Beine amputiert wurden, Lazär ermordet, der Goethe- Übersetzer, einer der bekanntesten Publizisten im Lande. Im Jahre 1945 wurde der größte Volkskundler und einer der bedeutendsten Dichter der zwanziger und dreißiger Jahre verhaftet. Er hieß Vinzenc Prendushi und war ebenfalls katholischer Erzbischof von Durräs. Er starb im Gefängnis im Jahre 1949. 1945 wurde der Herausgeber der größten Kulturzeitschrift Albaniens ('Der Lichtstern'), Bernardin Palaj, verhaftet und ein Jahr später hingerichtet. Er hatte sich übrigens der italienischen Besatzung des Landes 1939 heftig widersetzt. Palaj war der bekannteste Ethnograph Albaniens zu dieser Zeit. 1946 wurde ein Prosaautor verhaftet, der noch im gleichen Jahr im Gefängnis starb: Ndoc Nikaj, Verfasser des größten literarischen Werkes in Albanien. Er war zum Zeitpunkt der Verhaftung 82 Jahre alt, seine Veröffentlichungen umfassen ungefähr 400 Ausgaben.

Widerstand aus dem katholischen Kulturkreis

In den selben Jahren starben im Gefängnis nach grausamen Foltern oder bei Hinrichtungen zahlreiche andere Oppositionelle: Künstler, Schriftsteller, Übersetzer, Botaniker, Historiker. Sie gehörten zu einem großen Teil dem katholischen Kulturkreis an — da dieser ein höheres kulturelles Niveau besaß und auch am meisten Widerstand leistete: Er fiel dem gemeinsamen Feldzug serbisch- albanischer Kommunisten zum Opfer. Wer die Geschichte dieser Gegenden des westlichen Balkans kennt, weiß, daß das größte Hindernis für die orthodoxe serbische und montenegrische Expansion in Nordalbanien immer die katholische Kirche mit ihrer alten Tradition war. Die Wut der serboalbanischen Führer ging so weit, daß sie sogar die Gebeine unseres Nationaldichters Gjergj Fishta, 1940 gestorben, ausgruben und in den Fluß Drin bei Skutari warfen. Gjergj Fishta war im kommunistischen Albanien, bis vor einigen Wochen, ein verbotener Autor.

Ich habe diese Daten aus verschiedenen Quellen gesammelt, hauptsächlich jedoch aus Gjon Sinishtas Buch The Fulfilled Promise. A Documentary Account of Religious Persecution in Kommunist Albania, Santa Clara, Kalifornien 1976. Eine umfassendere Information wird zu einem günstigeren Zeitpunkt erscheinen, nämlich wenn sie keine Panik und Angst mehr bei Leuten auslösen wird, die ein belastetes Gewissen haben.

Im Jahre 1947 wurde der größte Prosaautor der dreißiger und vierziger Jahre, Mitrush Kuteli, verhaftet. Man schickte ihn zur Strafarbeit an die Trockenlegung eines Sumpfes; er versuchte, sich umzubringen. Zur gleichen Zeit schrieb ein Autor des Sozialistischen Realismus den Roman Der Sumpf. Kuteli überlebte und wurde freigelassen, hatte jedoch selbstverständlich seine frühere kreative Freiheit und Unabhängigkeit eingebüßt. Als Dissident war er praktisch „eleminiert“.

Gemarterte Intellektuelle statt „Dissidenten“

Aufgrund der totalen Unterdrückung oppositioneller Auffassungen in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre kann man nur von gemarterten albanischen Oppositionellen und kaum von Dissidenten sprechen. Es scheint eher unwahrscheinlich, daß diese frühen ideologischen Gegner etwas hinterlassen hätten — mit Ausnahme von Autoren wie Camaj, Koliqi Resuli und anderen, die auswandern konnten.

In den fünfziger Jahren sind die Oppositionellen — trotz eines scheinbaren Vakuums, das die albanischen Geschichts- und Literaturbücher vermitteln — nicht völlig von der Bildfläche verschwunden. Ganz im Gegenteil, es sind bisher Unbekannte auf der Szene erschienen: Kasem Trebeshina ist einer jener Autoren, die schon Anfang der Fünfziger mit einer für diese Zeit unfaßbaren Verwegenheit und Courage jene Freiheit und Demokratie verlangten, die wir heute anstreben. Er schrieb Enver Hoxha 1953 einen langen Brief, in dem er den von ihm geführten Staat mit einer absoluten Monarchie des Mittelalters vergleicht. Das Regime behandelte ihn wie einen verrückten Anarchisten, er wurde verhaftet, in die Verbannung geschickt und in psychiatrischen Anstalten verriegelt, seine Kollegen vom Schriftstellerverband denunzierten ihn mehrmals — in den Jahren 1953, 1962, 1979 und zuletzt 1990. Trotz alledem konnte man seine Opposition nicht ersticken, sie brachte gegen alle Erwartungen eine Reihe von literarischen und politischen Werken hervor, die heute noch unveröffentlicht sind. Vor Trebeshina hatte der Führungsclan Albaniens auch andere Schriftsteller angegriffen und isoliert, die ursprünglich der kommunistischen Bewegung angehört hatten, so etwa Sejfulla Maläshova oder Marlk Ndoja.

Daraus folgt, Dissidentenwerke sind in Albanien zumindest seit Anfang der fünfziger Jahre geschrieben worden. Im Ausland habe ich mehrmals Gelegenheit gehabt, Gedichte, Skizzen, Erzählungen, Tagebücher aus albanischen Gefängnissen zu lesen, die — wer weiß wie — das Land samt ihren geflüchteten Autoren verlassen hatten. Wenn man diese Werke wie ein literarischer Fachmann betrachtet, würde man keine großartigen Werke entdecken, weder Kundera noch Solschenizyn begegnen. Doch würde man die albanische Dissidenz als künstlerisch „minderwertig“ beurteilen und mehr verlangen von Menschen, die im neunten Kreis der Hölle und im Totenhause schrieben, käme mir dies fast wie Zynismus vor. Künftige Literaturen sollten ihnen dankbar sein, überhaupt zur Feder gegriffen zu haben.

Die Totenhäuser sind noch „bevölkert“

Hier besteht auch der größte Unterschied zwischen den albanischen Dissidenten und denen anderer osteuropäischer Länder. Der sowjetische Gulag ist zwar grausam gewesen, Rußland ist jedoch ein weites Land, und einige Autoren entgingen dem Auge des Großen Bruders. Albanien ist dagegen sehr klein, es hatte nur zwei Millionen Einwohner, und jene zehn, zwanzig, zweihundert oder auch zweitausend Dissidenten konnte unser Großer Bruder mit dem kleinen Finger und einem Knopf in Schach halten. Und Totenhäuser und albanische Sibirien für die Verbannten gab es zur Genüge; sie sind heute noch bevölkert, so dicht besiedelt waren sie einmal. Um so weniger kann man das albanische Dissidententum mit demjenigen der ehemaligen sozialistischen Länder Mitteleuropas, etwa der Tschechoslowakei, vergleichen. Dem heutigen tschechoslowakischen Präsidenten, dem bekanntesten Dissidenten Osteuropas, Vaclav Havel, würden wir sagen: Sie haben wahrhaftig ein Märtyrerleben, Herr Havel. Sie haben Ihre Überzeugungen nie verleugnet. Deswegen sind Sie auch ins Gefängnis gekommen. Und trotzdem würde albanischen Andersdenkern Ihre Haft — mit einer Schreibmaschine in der Zelle und mit Büchern, die im Westen herauskamen, mit dort aufgeführten Theaterstücken — wie ein Ferienheim vorkommen. Wissen Sie, daß der Tagessatz albanischer Gefangener nicht mehr als 2 Lek 20 übersteigen durfte (Mindestlohn in Albanien 17 Lek pro Tag)? Haben Sie gehört, daß es in albanischen Gefängnissen verboten war, Bleistift und Papier zu besitzen und die Autoren ihre Texte im Gedächtnis bewahren mußten? Da gab es einen albanischen Priester, der an einem Karfreitag „6. April“ notierte und dafür einen Monat lang in einer Zelle auf dem Betonboden verbringen mußte. Er starb wenige Wochen später. Wissen Sie, daß das Hauptziel albanischer Haftanstalten nicht die Isolierung der Gefangenen war, sondern ihre Erniedrigung, die Zerstörung ihrer Persönlichkeit? Die kommunistische Macht hat Sie auch unter Hausarrest gehalten. Aber in Albanien waren alle ehrlichen Schriftsteller praktisch unter Hausarrest. Wir waren alle unter Hausarrest.

Ich könnte hier auch über die Dissidenten der sechziger Jahre berichten, diejenigen, die wegen einer Kritik verbannt wurden oder bestraft, weil sie gegen die Zerstörung von Ikonen und alten Kirchen waren, dann über diejenigen, die wegen einer Taufe im Gefängnis saßen. Ich könnte auch über die Dissidenten der Jahre 1972, 1973, 1974 schreiben, über das Unwetter, das noch einmal über die albanische Kultur, über die Grundfreiheiten der Menschen herfiel, ich könnte über jene Dichter, Maler, Regisseure, Architekten, Schauspieler, Sänger berichten, die verhaftet wurden, sich umbrachten, den Verstand verloren oder geistig lahmgelegt wurden. Ich könnte auch über das stumme, das verkappte, das erniedrigte Dissidententum berichten, ich würde aber viel Zeit dafür brauchen. Außerdem würden diese Geschichten besser als ich jene erzählen, die die Tatsachen aus der Nähe kennen, und besser als alle die Zeit selbst.

In dem Artikel über das albanische Disssidententum macht der Literat Ardian Klosi eine sensationelle Erklärung: „Es ist in Albanien von offizieller oder nichtoffizieller Seite mehrmals wiederholt worden, es sei nicht gut, sich der Vergangenheit zuzuwenden; wenn man zurückschaut, könne man nur zurückbleiben... Das ist absolut unwahr.“

Unter diesem Motto eines „zeitgenössischen“ Forschers will der Artikelschreiber eines „von den wichtigsten Themen“, nämlich den „Blick von hinten“, behandeln, und zwar, ob ein albanisches Dissidententum existiert habe. Anstoß dafür gibt ihm die Tatsache, wie er selbst sagt, daß ihm „diese Frage mehrmals im Ausland gestellt worden ist“ (dieses Europa hat auch seine Dissidenten gehabt), warum sollten wir auch nicht herausfinden, „wo die albanischen Pasternaks, Solschenizyns, Kischs, Kunderas, Havels sind“ (?!).

Wenn wir nach seinem Maßstab urteilen, dann können wir sagen, unser Forscher hat keine Beschäftigung, vielleicht auch kein Geld, und vergeudet seine Zeit mit den „Dissidenten“ der Vergangenheit. Aber wenn man so etwas in der Zeitung 'Demokratische Wiedergeburt‘ findet, wobei jeder versprochen hat, bei unserer schwierigen Situation mitzuhelfen, können wir nicht gleichgültig bleiben. Sind es die Dissidenten, die uns aus der schwierigen Situation helfen werden?

Wir könnten alle in den Akten der Vergangenheit blättern. Heute gibt es aber keine Zeit zum Blättern in den Akten. Heute gibt es nur Zeit, die schwierigen Situationen zu bewältigen, in denen sich das Land befindet.

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