: Heimatschuß modern
■ Begegnung mit einem jungen Bomberpiloten in einem 2.-Klasse-Reichsbahnabteil
Im Zugabteil sitzt ein junger Mann mit schlechten Zähnen und beklagt, daß der Zug so langsam fährt; außerdem muß er viermal umsteigen. Er wäre lieber geflogen. Der junge Mann heißt Paul und ist auf dem Weg, sein Testament zu machen. Ein Report von Benjamin Utzerath.
Dazu wurde er amtlich aufgefordert, denn er ist von Beruf Bomberpilot und erwartet seine Stationierung in der Türkei. Paul zieht seine Walkman-Knöpfe aus den Ohren und wundert sich, daß er Hunger hat. Soviel wie in diesen Tagen habe er in einer ganzen Woche nicht gegessen. Und er zieht das nächste belegte Brötchen aus der Reisetasche.
Sein Vater ist US-Pilot und wurde kürzlich im Irak abgeschossen. Glücklicherweise hat er den Abschuß überlebt und geriet nicht in Gefangenschaft.
Paul war zuletzt auf einem Flugzeugträger stationiert und fliegt einen Überschall-Jet. Ludwigshafen-Mallorca in 25 Minuten. Man kann eigentlich gar nicht so schnell gucken, wie man fliegt, wenn man in Deutschland unterwegs ist. Hoppla! — War das nicht Bonn? Er würde ja schon gerne mal zum Kaffeetrinken nach Ibiza düsen. Leider unmöglich, denn die Maschine sendet Signale aus; mit dem Abkratzen der Hoheitszeichen ist es nicht getan.
Und er schwärmt von den Scherzen, die man mit einem Düsenjäger anstellen kann; etwa die Kollegen im Tower einmal ordentlich ärgern, indem man per Druckwelle die Scheiben zerschmettert. Ein Kollege habe sich etwas ganz Besonderes geleistet. Er habe im Tiefflug einem verhaßten Verkehrspolizisten das Dach vom Streifenwagen eingedrückt, so daß die Feuerwehr den Beamten befreien mußte.
Die Disziplinarstrafe war ihm den Spaß wert. Paul kramt eine Illustrierte hervor und zeigt mir einen Artikel über die in der Türkei stationierten Piloten. Die haben Ausgangssperre und müssen immer im Hotel bleiben, denn es werden Attentate befürchtet. Die Bilder zeigen uniformierte Männer, die Mensch- ärgere-dich-nicht spielen. Paul erklärt mir, die Langeweile dort sei entsetzlich, und jedes aus der Heimat eintreffende Brettspiel käme einer Rettung gleich. Hoffen auf Veränderung wird Hoffen auf einen Einsatz.
Paul schimpft auf Präsident Bush, der seiner Meinung nach den Irak mit Napalm hätte abbrennen sollen, um die Luftabwehr zu vernichten. Am gefährlichsten für ihn sind die Fliegerabwehrraketen direkt von unten. Der Abschuß einer Rakete wird zwar im Cockpit auf dem Radarschirm gemeldet, aber dann ist sie auch schon da. Zu spät, um den Schleudersitz zu ziehen. Deshalb wird der Schleudersitz über den Bordcomputer mit dem Radarschirm gekoppelt. Blitzt dort ein Raketenabschuß auf, sprengen Pulverladungen die Haube ab, und eine Rakete schießt den Sitz in den Himmel. Der Simulator dazu ist eine Art »Hau-den-Lukas«, und es preßt einem darauf die Eingeweide in die Kniekehlen.
Kommt die Fliegerabwehrrakete nicht von unten, kann man sie nach einigen Flugmanövern abschießen. Paul demonstriert mit seinen Händen, was er am Simulator gelernt hat. Wer nichts wagt, gewinnt nichts, ist seine Devise.
Vor seiner Abfahrt fand er es sinnvoll, sich einen Übersetzer im Taschenrechnerformat zu kaufen, und er präsentiert mir das Gerät, das auch Währungen umrechnen kann. Ich verkneife mir die zynische Frage, ob er das Ding für den Fall der Gefangenschaft erworben hat.
Paul ist seit sechs Jahren Berufssoldat und begann als Hubschrauberpilot. Die Umstellung von Propeller auf Düse war sehr aufregend. Ebenso famos sei der Unterschied zwischen ein- und zweistrahligem Jet. Einige Maschinen werden zu zweit geflogen. Dann ist der Pilot aber nur Chauffeur. Navigation und Bordraketenbedienung obliegen dem Hintermann.
Die B-52 wöge soviel wie alle Häuser Berlins und könne soundsoviel komplette Eisenbahnzüge aufnehmen, inklusive Fahrgäste. Deswegen nenne man den Bomber »Fliegende Festung«. Und er kann sich nicht erklären, weshalb so ein Monster überhaupt noch fliegen kann. Vier Piloten sind dazu notwendig.
Er selbst fliegt nur alleine.
Paul erklärt mir seine Cockpit- Einrichtung. Neben internen Steuerungsfunktionen errechnet der Bordcomputer dem Piloten Ereignisse, die zehn Minuten in der Zukunft liegen. Etwa Wetterberichte, Landschaftsformationen und Bewegungen im Luftraum. Der Steuerknüppel gleicht einem Musikinstrument. Jeder Finger hat eine bestimmte Funktion. Zwei Finger gewährleisten den Betrieb der Maschine. Fällt ein Finger aus, wird der Autopilot aktiviert. Zwei weitere Finger suchen sich den Weg über Sicherheitsklappen zu den Kontakten, die die Bordraketen auslösen. Die Flügel eines Düsenjägers sind innen Kraftstofftank und Raketenmagazin. Für die Füße stehen vier Pedale zur Verfügung. Die äußeren sind Gaspedale und die inneren Bremsen. Sie werden aus Sicherheitsgründen stereo bedient. Gleichzeitig muß er Digitalanzeigen und Radar im Auge haben. Weißer Blitz — Luftabwehrraketen, grüne Punkte — Kollegen, rote Punkte — Feind.
Paul ist froh, daß ich ihm zuhöre. Er erzählt mir und sich, daß er seinen Jet aus dem Effeff beherrscht. Smalltalk betäubt das Denken und tarnt die Angst, dies könnte seine letzte Reise sein. Beiläufige Erwähnungen sind in Wahrheit Sensationen.
Wie die Landschaft aussieht, durch die wir reisen, daß ein Becher Kaffee 4,50 DM kostet, daß der Schaffner schon wieder unsere Billette kontrolliert und sich nicht über die Militärfahrkarte wundert; die gibt es nämlich erst seit kurzem. Bei einer Bremsung von Überschallgeschwindigkeit auf 300 km/h ist ihm neulich ein plombierter Zahn geplatzt. Er zeigt mir sein mangelhaftes Gebiß. Opfer für den Rausch der Geschwindigkeit; für die Erlaubnis, einen Überschall-Jet fliegen zu dürfen. Mit dem Krieg ist aus dem Spielzeug eine Waffe geworden, und aus ihm ein zahnloses Projektil.
Ich frage vorsichtig, ob ihm ein Zahnarztbesuch das Leben retten könnte? Heimatschuß modern —
Paul fixiert mich.
Die Frage war tabu, und das Gespräch ist beendet. Er stöpselt sich wieder den Walkman in die Ohren und stiert aus dem Fenster. Für einen Überschallpiloten fährt ein Zug immer zu langsam. Zu langsam, um aus der Haut zu fahren.
Unser Abschied am Bahnhof ist höflich-unverbindlich. Ich setze mich in ein Café. Dicke Schülerinnen fahren mit Papis Mercedes vor, trinken Süßstoff-Cappuccino und reden von finanziellen Lagen.
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