: Und ewig transpiriert Auguste
Wintermärchen ■ Von Claus Christian Malzahn
Schon bevor er Auguste kennenlernte, hatte er den Winter für die überflüssigste aller Jahreszeiten gehalten. Denn er war im Zeichen des Löwen geboren und hatte sich schon in den ersten Tagen seines Lebens mit der schwülen Nachmittagshitze des Spätsommers abgefunden. Mit von der Stirn tropfenden Schweißperlen und dem Gedanken, sich bei brüllender Hitze ins Wasser zu stürzen, wollte er selig werden. Diesen unwiderruflichen Beschluß faßte das drei Tage alte Kind im Wochenbett liegend und lächelte die Hebamme an, die sich im Sommer 1963 fluchend nach einer Klimaanlage sehnte.
Als vier Monate später das Thermometer die Null-Grad-Marke unterschritt, trat er aus Protest in einen dreitägigen Fieberstreik. Diese Demonstration wiederholte Leonard im darauffolgenden März vor lauter Freude, weil es wieder wärmer wurde. Die ihm im Krankheitsfall von seinen Eltern, Verwandten und Freunden entgegengebrachte Fürsorge gefiel ihm so gut, daß er den Beginn und das Ende der furchtbaren Jahreszeit sein ganzes Leben lang auf solche Weise anzeigte. Der spezielle Fall von Hypochondrie wurde von seiner Umgebung nicht durchschaut.
Seit seiner frühesten Kindheit verfügte er über ein umfangreiches Arsenal von Wolldecken, Thermosflaschen, Kräutertees, Erkältungsbädern, Schnupfensprays, Schals, Handschuhen, Winterstiefeln, Pudelmützen, dicken Mänteln und Wollsocken. All diese Gegenstände wurden dem Kinde in jedem Jahr zu Weihnachten unter den Tannenbaum gelegt. Angezogen oder benutzt hat er sie bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr nur unwillig und unter elterlicher Androhung von Einzelhaft in der Besenkammer. Am Heiligen Abend des Jahres 1977 formulierte der Pubertant, der nach der Christmette ein paar lange, gerippte Unterhosen in Glanzpapier eingewickelt fand, den für sein weiteres Leben entscheidenden Satz: „Ich lehne den Winter ab. Ich ziehe das nicht an.“
Seine besorgten Eltern versuchten es mit der Streichung des Taschengeldes, Stubenarrest, Fernsehentzug und Besuchsverbot. Es nützte nichts. Im Gegenteil. Im Februar 1978 drohte Leonard damit, das Haus in kurzen Hosen, Sandalen und einem Hawaiihemd zu verlassen, falls Mama auf das Tragen der langen, weißen Unterhosen bestünde. Sie flehte ihn ein letztes Mal an, dann gab sie auf. Beim Abendbrot, als Papa sich wie immer nach dem Ablauf des Tages erkundigte, blickte die arme Frau resigniert in die Käseglocke und schwieg. Leonard lächelte und erklärte, im kommenden Sommer mit älteren Freunden nach Portugal fahren zu wollen. Dort sei es ziemlich heiß, fügte er hinzu. Zu dieser Reise machte er sich von da an jedes Jahr auf.
Im Lissabonner Zentralkrankenhaus weiß man noch heute von dem Patienten. Mitte August des Jahres 1982, erinnert sich der Hautarzt Dr. Elias Morinha de Silva, hätte er einen interessanten Fall auf der Station gehabt. Ein junger Deutscher sei ihm von schluchzenden Landsleuten vor die Füße gelegt worden. Er habe eine schwarze Badehose getragen, der Rest hätte wie eine Karotte ausgesehen. Die mit Brandblasen übersäten Schultern seien ein echtes Problem gewesen. Zumal man in Portugal mit so gefährlichem Sonnenbrand wenig Erfahrungen habe. Die schwarzhaarige Bevölkerung sei dagegen weitgehend resistent. Nach zwei Wochen hatte de Silva den dreimal gehäuteten Leonard wieder zurechtgeflickt. Die auf den Schultern des Brandopfers zurückgebliebenen überdimensional großen Sommersprossen animierten den bis dato unbekannten Arzt zu einem vielbeachteten Artikel in der einschlägigen Fachpresse.
Der Aufenthalt im Krankenhaus war für Leonard in doppelter Hinsicht ein einschneidendes Erlebnis. Zum einen beschloß er, nach dem Abitur Chemie zu studieren, um später ein Sonnenöl mit einem Lichtschutzfaktor bisher nicht gekannter Höhe entwickeln zu können. Zum anderen lernte er Auguste kennen, die mit einem komplizierten Beinbruch in das Hospital eingeliefert worden war. Kurz vor Beendigung seines Aufenthalts humpelte ihm das bildhübsche, braungebrannte Mädchen mit pechschwarzen Haaren auf dem Krankenhausflur über den Weg. Auguste, nur unwesentlich älter als Leonard, hatte sich an der Algarve von einer Klippe gestürzt. Während des freien Falls hatte sie sich auf das explosionsartige Geräusch gefreut, welches entsteht, wenn man mit angezogenen Beinen aus zehn Metern Höhe in Atlantikwellen eintaucht. Doch es hatte nicht „platsch“, sondern „knacks“ gemacht. Auguste wurde ohnmächtig und mit blau angelaufenem Kopf von einem Fischer gerettet, der in der Lagune seine Netze ausgeworfen hatte. Der Portugiese hatte von einem in Duisburg lebenden Cousin bereits von den Deutschen gehört und wunderte sich kaum.
Auguste lebte in Wuppertal, Leonard in Berlin. Auch sie haßte den Winter. Also gab er Nachhilfe in Chemie, um die Telefonrechnungen bezahlen zu können und das Geld für den Urlaub zusammenzubekommen. Sie sahen sich, so oft es eben ging, und träumten schnell davon, weit weg im Süden ein Häuschen zu haben und nie mehr zu frieren. Sie lebten nur noch für den Sommer. Sobald die Märzsonne ihre stechenden Strahlen auf die geteilte Stadt warf, lief Leonard leichtbekleidet und „Auguste! Auguste!“ rufend durch den Grunewald. Sie schenkte ihm zu Weihnachten keine langen Unterhosen, sondern seidene Boxershorts. Er schickte ihr im Winter Dutzende Postkarten, auf denen Sandstrände und Palmen abgebildet waren. Wenn Auguste ein Schweißtropfen aus der Achselhöhle tropfte und langsam den Arm herunterrann, dann brüllte der Löwe in Leonard, dann war er glücklich. Die gemeinsamen Saunabesuche zwischen November und Februar wurden so zu einem gefährlichen, sinnlichen Abenteuer. Leonard wollte die Schwitzzelle immer später verlassen. Auguste kam immer öfter an die Grenzen ihrer Fähigkeit zur Transpiration. Sie wurde wütend, fühlte sich ausgepreßt wie eine Zitrone und erpreßt wie eine Geisel. Wenn sie die Saunazelle, der Verzweiflung nahe, verließ, stürzte sie sich erschöpft ins eiskalte Wasser. Er stand dann, nur mit einem Handtuch bekleidet, am Rande des Beckens und guckte schuldbewußt. Dann spritzte sie ihn naß, und fürs erste war wieder alles in Ordnung.
Im Frühling des Jahres 1986 zog Auguste, die sich an der Freien Universität bei den Philosophen eingeschrieben hatte, in eine zentralbeheizte Wohnung nach Berlin-Charlottenburg. Leonard wohnte mittlerweile allein in einer Bude mit Allesbrenner und Außenklo in Neukölln. Kaum zeigte das Thermometer fünfzehn Grad an, legten sich beide nur dünn bekleidet an den Wannsee. Abends erzählte der Chemiestudent seiner Auguste verschnupft, aber selig vom Treibhauseffekt. Sie zitierte in solchen Situationen Darwin. Ganz wohl war ihr nicht dabei.
Die Winter der folgenden Jahre waren immer schwerer zu bewältigen. Leonard verfluchte seinen Allesbrenner, der zwar alles zu verbrennen in der Lage war, dessen Wärmestrahlung den Schreibtisch aber nicht erreichte. Auch die Sonnenschutzformel hatte er noch nicht gefunden. So nistete er sich Jahr für Jahr ab Oktober in der kleinen Wohnung Augustes ein, wurde im November drei Tage lang krank, brütete über seinen Verbindungen und träumte von der Karibik. Doch sein „Sonnenschein“, wie er seine Bekannte nannte, teilte diesen Traum immer weniger. Sie sprach viel von Bloch und Foucault, war begeistert von Professor Heinrich — und schwärmte heimlich von Christoph.
Der kam aus Bayern und studierte Psychologie. Ein blonder Alpinist, der sein Geld in den Semesterferien in Garmisch als Skilehrer verdiente. Er lud sie zum Schlittschuhlaufen ein. Sie lehnte entschieden ab. Er ließ nicht locker. Er überredete sie zu einem Saunabesuch. Dort interessierte er sich nicht für ihre Schweißtropfen. Er versprach ihr, auf den Mount Everest zu steigen und den Mond herunterzuholen. Die Sonne war ihm sehr egal. Sie war irritiert. Anschließend gingen sie in eine Bar, deren Einrichtung an das Innere eines leeren Kühlschrankes erinnerte. Sie fröstelte. Dann küßte er sie. Sie ließ es sich schaudernd gefallen.
Als Auguste Leonard einige Wochen später an einem Winterabend von Christoph erzählte, sank seine Körpertemperatur um 1,7 Grad. Stumm und mit kreidebleichem Gesicht saß er minutenlang da, um dann winselnd auf seinen lauwarmen Allesbrenner zuzukriechen. Auguste zögerte ein wenig, verließ dann aber — schluchzend — die Wohnung. Leonards Kopf war stundenlang leer. Gegen Mitternacht kramte er eine lange Unterhose aus der Kommode und legte sich ins Bett. Er konnte nicht schlafen, und ihm war sehr elend zumute.
Auguste kaufte sich am nächsten Tag bei Hertie dicke Wollpullover und Angoraunterwäsche ein und fuhr danach mit Christoph nach Garmisch. Der azurblaue Himmel über den Alpen gefiel ihr ausgesprochen gut. Christoph lobte bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Fortschritte beim Skifahren. Abends saßen sie in der Wohnung seiner Eltern stumm vor dem Kamin. Im Hintergrund flimmerte der Farbfernseher, davor schnarchte das bayerische Elternpaar. Nach Sendeschluß schlich sich Christoph mit Auguste ins gut geheizte Gästezimmer. Sie transpirierte. Er bemerkte es nicht.
Zurück in Berlin sprach der Bayer am Telefon von Verlobung in Zürich. Auguste erschrak und drehte die Zentralheizung auf. Sie dachte an Leonard. Sie nahm sich vor, nicht an ihn zu denken. Das Telefon klingelte. Christoph war am Apparat und sprach eine Einladung in die Kühlschrankkneipe aus. Sie sei etwas fiebrig und bitte für heute um Entschuldigung, log sie. Dann blätterte sie lustlos in Grimms Märchen herum und schlief ein.
Am nächsten Morgen, es war bitterkalt, fuhr sie mit der S-Bahn nach Wannsee. Das Eis trug gut, und sie flitzte auf ihren Kufen fast bis nach Potsdam. Dann rutschte sie aus. Auguste wurde ohnmächtig und mit blau angelaufenem Kopf von einem arbeitslosen Ostler gerettet, der vor dem Wannsee Brotkrumen für Enten und Schwäne ausgestreut hatte. Er hatte von einem Cousin von diesen Deutschen gehört und wunderte sich kaum.
Im Krankenhaus erklärte ihr der Arzt, daß die Behandlung des komplizierten Beinbruchs bis zum Sommer dauern werde. Dann stand Leonard in der Tür. Er setzte sich ans Bett, griff nach Augustes Hand und behauptete, erstens lange Unterhosen zu tragen und zweitens im Park des Hospitals einen Schneemann gebaut zu haben. Er schwitzte schon ein wenig.
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