: Vom Südseezauber in die rauhe Vergangenheit
Mit 40jähriger Verspätung beginnen Ethnologen jetzt ihre fatalen Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus aufzuarbeiten/ Rassenforschung war blutiger Ernst/ Ethnologen planten Verwaltung für künftige deutsche Kolonien/ Entwurf eines Apartheidsystems/ Grenzenloser Opportunismus für Gelder und Stellen/ Selbstbild ist angekratzt ■ Von Robert Schumacher
Eigentümlich spät hat die Ethnologie erst vierzig Jahre nach Kriegsende damit begonnen, den Beitrag ihrer Zunft zur ideologischen Untermauerung und praktischen Unterstützung der wahnwitzigen deutschen Weltherrschaftsphantasien zu untersuchen. Bis jetzt hatte der Faschismus in der institutionalisierten Völkerkunde einen Stellenwert wie in der Chronik eines Männergesangvereins: „Nach den politischen Wirren der Nazizeit und der Auslagerung unserer Bibliothek konnte nach dem Krieg...“ und so weiter.
Warum erst jetzt eine Auseinandersetzung stattfindet, fragten sich auch die Teilnehmer der Tagung „Ethnologie und Nationalsozialismus“, die Ende letzten Jahres in Köln stattfand. Eine mögliche Erklärung mag sein, daß viele der von '33 bis '45 aktiven Wissenschaftler auch nach dem Krieg wesentliche Machtpositionen in der deutschen Völkerkunde besetzten. Warum sich jedoch die '33 und '34 geschaßten und in die Emigration gezwungenen Ethnologen nicht zu Wort meldeten, bleibt ungeklärt.
Nationalsozialistisches Weltbild mitgestrickt
Dabei gab und gibt es durchaus einiges zu klären. Viele Vertreter des Fachs hatten sich nämlich nicht in den Winterschlaf der inneren Emigration zurückgezogen, um auf bessere Zeiten zu warten, von Widerstand ganz zu schweigen. Sie hatten vielmehr aktiv am nationalsozialistischen Weltbild mitgestrickt. Ohne hörbaren Widerspruch hatten sie zunächst der Entfernung ihrer jüdischen Kollegen aus Amt und Würden zugesehen, um gleich darauf die Chancen, die das neue System für sie bot, zu ergreifen.
So nahmen zum Beispiel die beiden Ethnologen Mühlmann und Lösch 1943 eine Kategorisierung der Menschheit vor; die Deutschen und ihre Verbündeten (Italiener und Japaner) wurden zu Hochvölkern, Juden und Zigeuner zusammen mit Armeniern, Syrern und Parias zu parasitären „Scheinvölkern“ erklärt. Mag so etwas heute geradezu lachhaft anmuten, damals war es blutiger Ernst. Rasse wurde in fast allen ethnologischen Werken dieser Zeit nicht nur im Sinne der Kombination von äußerlichen Merkmalen gebraucht, sondern im Sinne einer genetisch verankerten psychischen und charakterlichen Disposition, der sogenannten Rassenseele.
Diese Forschungen wurden durchaus anwendungsbezogen verstanden, galt es doch, in den eroberten Ostgebieten Ordnung in das ethnische Durcheinander zu bringen und zu bestimmen, welche Völker durch „Umvolkung“ noch zu retten seien und welche ausgemerzt werden müßten.
Perfekte Verwaltung für nicht-existente Kolonien
Eine Reihe von Völkerkundlern verfolgte eine andere Strategie. Sie argumentierten mit dem Nutzen ihrer Forschung für die zukünftige Verwaltung des wiederherzustellenden und zu ergänzenden deutschen Kolonialreichs (Deutsch-Mittelafrika), das im Ersten Weltkrieg abhanden gekommen war. Es ist dabei nicht wirklich klar, ob Hitler ein originäres Interesse an Überseekolonien hatte; in jedem Fall galt dem „Siedlungsraum im Osten“ sein Hauptaugenmerk.
Wahrscheinlich hat er sich kolonialer Forderungen nur bedient, um die Engländer zu Zugeständnissen auf dem Kontinent zu bewegen. Wie dem auch sei, man war auf alle Eventualitäten der Weltherrschaft vorbereitet und hatte ein komplettes Konzept zur Verwaltung deutscher Kolonien parat. Das Kolonialpolitische Amt (KPA) der NSDAP beschäftigte noch Anfang 1942 fast 250 Mitarbeiter. Hier wurden Studien erstellt zu Problemen wie der zukünftigen Währung in den Kolonien oder dem Transportwesen unter tropischen Bedingungen.
In einer eigenen Kolonialschule wurden Beamte für den zukünftigen Dienst in Übersee ausgebildet, dazu Ingenieure, Juristen und Techniker. Man kann nur staunend fragen, ob jemals in der Geschichte ein nicht existentes Reich so gut verwaltet worden ist. Erst im Februar '43, nach der Niederlage von Stalingrad, wurde das KPA als nicht kriegswichtig eingestuft und aufgelöst.
Gute Jobs dank deutscher Expansionsgelüste
Neben diesem boten sich Ethnologen reiche Betätigungsfelder in einem ganzen Mikrokosmos von Institutionen, die sich mit den sozialtechnologischen Aspekten der deutschen Expansion beschäftigten, so dem Institut für eurasische Kulturforschung, der SS Organisation Ahnenerbe, der Planungs- und Forschungsstelle für außereuropäische Völkerkunde, dem Sven-Hedin-Institut für Tibetologie, dem Institut für Rassen- und Völkerforschung, dem völkerpsychologischen Institut in Prag und so weiter.
In all diesen Einrichtungen wurde unter Mitarbeit von Ethnologen teilweise grotesk irrational „kriegswichtige“ Forschung betrieben. Aber auch die universitäre Grundlagenforschung machte „Fortschritte“. Richard Thurnwald, ein international anerkannter Fachvertreter, der mehrere Lehraufträge (zuletzt 1936) an der renommierten Yale-University bekam, verfaßte 1939 — zurück in Deutschland — die „koloniale Gestaltung“.
Sie muß als klarer Entwurf eines Apartheidsystems für zukünftige deutsche Kolonien betrachtet werden. Die scharfe Abgrenzung von „weißem Land“, „gemischten Gebieten“ und „schwarzem Land“ spielt eine zentrale Rolle in seinem Konzept, das geprägt ist von der Angst vor einer Vermischung der Rassen.
Nichts scheint also näherliegender, als die meisten der zwischen 1933 und 1945 wirkenden Ethnologen als Nazis zu brandmarken. Ganz so einfach aber scheint es doch nicht zu sein. Versteht man den Nationalsozialismus als hochgradig eklektische Ideologie, die aus ausnahmslos bereits existierenden Versatzstücken wie Rassismus, Kolonialrevisionismus und Antisemitismus zusammengesetzt ist, findet man nur wenige „komplette“ Nazis.
Auch die Mitgliedschaft in der NSDAP oder SA kann nicht als schlüssiges Kriterium verwendet werden. Eine der übelsten Gestalten, der Anthropologe und Rassenforscher Eugen Fischer, ist zum Beispiel nie Mitglied gewesen. Genauso wenig ist die Emigration eines Ethnologen schlüssiger Beweis einer moralisch hochwertigen Gesinnung. Julius Lips, einer der wenigen nichtjüdischen Emigranten, galt lange Zeit als integre Figur.
Nun stellt sich heraus, daß er die Kündigung seiner Professur 1933 wegen SPD-Mitgliedschaft durch antisemitische Denunziation von Kollegen rückgängig zu machen versuchte. Erst im New Yorker Exil und später als Dekan der Leipziger Uni begann er an seiner Opferlegende zu stricken.
Nach dem Krieg Rückzug in die Detailforschung
Nach dem Krieg begann in der deutschen Ethnologie ein Rückzug in die Belanglosigkeit der Detailforschung. Vor einer eigenen Theoriebildung, die ja immer auch eine politische ist, schreckte man zurück und begnügte sich mit Importware aus Amerika, Frankreich und England.
Viele der Tagungsteilnehmer hatten sich intensiv in die Biographien der mehr oder minder in den Nationalsozialismus involvierten Forscher eingearbeitet. Einige hatten es geschafft, die Klippen einer Identifikation mit ihren „Helden“ zu umschiffen. So erscheinen viele Lebensläufe durchaus nachvollziehbar und werden zum entschuldbaren Schicksal eines in seinen Erfahrungen und Bedingungen gefangenen Menschen.
Natürlich hat eine solche Darstellung ihre Berechtigung und kann im besten Fall dazu führen, diese Nazis nicht einfach als Verbrecher abzustempeln, sondern eine Reflexion über die heutige Rolle der Ethnologen anzuregen. Soweit so gut, bei schnellen Verurteilungen ist Vorsicht geboten. Aber wenn man nicht einmal mehr Intellektuellen, wie es die beiden wohl herausragendsten Ethnologen der Zwischenkriegszeit Mühlmann und Thurnwald zweifellos waren, abverlangt, ethische Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, wem dann überhaupt noch?
Der Gesamteindruck ist verwirrend. Was bleibt ist der schale Eindruck von schier grenzenlosem Opportunismus. Um an Professorenstellen, Lehraufträge und Forschungsgelder zu kommen, war ihnen offensichtlich fast alles recht.
Dieser Opportunismus läßt sich teilweise durch die spezielle Stellung der Völkerkunde an der Schnittstelle zwischen Geistes- und Naturwissenschaften erklären, die ständige Legitimationsprobleme verursacht. Sie kann sich nicht auf die selbstverständliche Berechtigung der Philosophie und Literaturwissenschaften als Grundfesten des abendländischen Denkens berufen; genauso wenig aber auf den wirtschaftlichen Nutzen der Naturwissenschaften.
Heute wieder: Ethnologe als Waffenhändler
Im Fach gibt es daher seit jeher zwei Tendenzen: die eine Fraktion betreibt eine Art philosophische Reflexion der eigenen Gesellschaft im Spiegel der exotischen Völker, die andere sucht ihr Glück in anwendungsbezogener Forschung. In Krisenzeiten gewinnt letztere Fraktion an Bedeutung. Berief man sich früher auf eine Inwertsetzung der Kolonien als Ziel, muß heute, in der gegenwärtigen Krise der Unifinanzierung, die Entwicklungshilfe als Anwendungsgebiet herhalten. Diese Ansätze mögen durchweg wohlmeinend konzipiert sein. Nur besagt das erstens nichts über ihre Auswirkungen, und zweitens darf unterstellt werden, daß das Motiv viel mehr eine Verteidigung und Expansion der ökonomischen Nische der Ethnologie als eine wirkliche Neuausrichtung der Entwicklungshilfe zum Ziel hat. Während manche der Tagungsteilnehmer offenbar nichts weiter als eine moralische Verurteilung bestimmter Ethnologen anstrebten, verfolgten andere auch gegenwartsbezogene ethische Ziele. Die Debatte erhielt zusätzliche Aktualität durch einen noch schwelenden Skandal an der Kölner Uni. Ein unentgeltlich dozierender Ethnologe entpuppte sich als hauptberuflicher Waffenhändler. Alles ganz legel, Chef der amerikanischen Abteilung bei Heckler & Koch. Im Rahmen des Prinzips der „Freiheit von Forschung und Lehre“ unterstützt der Dekan in der folgenden Auseinandersetzung den Waffenhändler Dr. habil. Deltgen. So wurde der Plan einer Ethikkommission für Völkerkundler vorgestellt, der Verfehlungen dieser Art für die Zukunft ausschließen soll. Wie diese allerdings angesichts der überwältigenden Menge von Belegen für die Richtigkeit der These von der „Hure Wissenschaft“ funktionieren soll, konnte nicht geklärt werden. Was bleibt ist ein tiefer Kratzer im Selbstbild der Ethnologen, die sich so gerne als Anwälte der Unterdrückten dieser Erde verstehen — besonders dann, wenn diese in malerischer Weltabgeschiedenheit leben.
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