: Die Liebe zum Achtbeiner
Was Sie schon immer über Spinnen wissen wollten ■ Von Thomas Kretschmer
Unter der Decke bewegt sich etwas, krabbelt langsam an dem Schlafenden hoch. Der Mann erwacht, entdeckt die riesige Vogelspinne, versucht sie abzuschütteln — zu spät. Die Giftzähne haben sich schon in den Hals des Opfers geschlagen. Unter Krämpfen bricht der Gebissene Sekunden später tot zusammen. Blut rinnt ihm aus dem Mund.
Mädchen kreischen laut auf, Pfiffe bejubeln die Szene. Seit Wochen läuft der Spinnen-Schocker Arachnophobia (aus dem Griechischen: Arachnoiden = Spinnen; Phobie = krankhafte Angst) in den deutschen Kinos. „Das letzte Wort in Sachen Spannung“ (Werbeslogan) hat sich schon auf die vorderen Plätze der Kino-Hitparade geschoben. Das Publikum besteht hauptäschlich aus Jugendlichen, und die finden's „echt geil“, wie eine amerikanische Kleinstadt von den Killerspinnen heimgesucht wird.
„Arachnophobia ist totaler Quatsch. Wissenschaftlich ist in dem Film nichts haltbar!“ Günther Schmitt (65) ist der deutsche Spezialist für Spinnen. Seit seiner Kindheit beschäftigt sich der Zoologe mit Spinnen. Neben 140 wissenschaftlichen Publikationen hat Schmitt auch vier Bücher zu dem Thema verfaßt. Eines der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschungsarbeit gelang ihm in den fünfziger Jahren: „Ich habe zweijährigen Kleinkindern giftige Spinnen gezeigt — keines hat ängstlich reagiert, im Gegenteil, die Kinder wollten sogar mit den Spinnen spielen.“ Als er dieselben Kinder zwei Jahre später wieder mit Spinnen konfrontierte, hatten sie Angst. Schmitt: „Das war der Beweis, daß die Angst vor Spinnen keineswegs angeboren, sondern erlernt ist.“
Thomas Ziebarth, der mit seinen 26 Jahren schon zu den Senioren der Kino-Vorstellung zählte, ist sauer: „Wieder so ein Machwerk, das zum Zertreten von Spinnen auffordert! Der wohlige Schauer geht auf Kosten der achtbeinigen Hauptdarsteller.“
Im Wohnzimmer des gemütlichen Dicken mit Vollbart liegt etwas auf dem Couchtisch, was so gar nicht in den Raum zu passen scheint: acht leblose Vogelspinnen vom Format eines Fünf-Mark-Stücks bis zum suppentellergroßen Prachtexemplar. Erst auf den zweiten Blick stellen sich die behaarten Körper als leer heraus. Die Spinnen haben diese alten Hüllen bei der letzten Häutung verlassen. Nun ist Ziebarth damit beschäftigt, die zerbrechlichen Chiningehäuse vorsichtig auf Millimeterpapier zu kleben.
Die Tiere, von denen die Hüllen stammen, heißen Blacky, Blondie und Gifti und leben in einem Terrarienschrank im Eck des Zimmers. Die rötlich behaarten Achtbeiner sitzen träge unter den Neonlampen ihrer Glaskäfige. Ab und zu krabbeln sie langsam an der Scheibe entlang, verstecken sich in ihrer Steinhöhle oder trinken aus einem Schälchen Wasser. Letzteres zu beobachten ist für den Spinnenfreund schon eine kleine Sternstunde. Einer der liebevoll eingerichteten Wohnbehälter ist leer; von Teddy hat sich Thomas Ziebarth vor kurzem getrennt: „Nach der letzten Häutung hat sich rausgestellt, daß Teddy ein Männchen war und höchstens noch acht, neun Monate leben würde. Weibliche Vogelspinnen werden bis zu 25 Jahre alt — da weiß man, was man hat ...“ Das Siechtum seiner Lieblingsspinne wollte der Pfeifenraucher nicht miterleben und hat sie kurzerhand verschenkt.
Der passionierte Modellbau-Fan und Tierpräparator bekam seine erste Spinne auch geschenkt: „Gifti war so aggressiv, daß der Vorbesitzer sie mir zum Töten und Präparieren brachte. Ich war fasziniert von dem Tier. Das hat der Besitzer gemerkt und ich durfte es behalten.“ Nach einigen unruhigen Nächten („Gifti war ausgebüchst und ich hab' sie schließlich hinter der Kloschüssel wiedergefunden“) hatten sich Thomas Ziebarth und seine Frau an den behaarten Mitbewohner gewöhnt. „Mein Mann ist Vater geworden!“ beschreibt Carola Ziebarth die liebevolle Tierpflege ihres Gatten. Paradox sei nur sein Verhältnis zu heimischen Krabblern. „Wenn mir eine simple Hausspinne begegnet, ekel ich mich fast zu Tode!“ gibt ihr Mann verlegen zu.
Seine Studienobjekte hingegen flößen ihm immer noch Respekt ein: „Ich habe Angst vor den Viechern — ein Biß tut höllisch weh!“ Das hat Ziebarth schon zweimal am eigenen Leib gespürt, „gefährlich ist das Gift aber nur für Allergiker, normalerweise gibt es eine dicke Schwellung wie bei drei Bienenstichen auf einer Stelle“. In die Hand nehmen will er Gifti und Konsorten aber auch aus einem anderen Grund nicht: „Das ist immer eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod für das Tier. Vor Angst könnte es von der Hand springen.“ Bei Größe und Gewicht (bis 150 Gramm) der Vogelspinnen sind Stürze schon ab 20 Zentimetern oft tödlich. Griffbereit hat Ziebarth immer ein „Erste-Hilfe-Set“ für Spinnen. „Darin ist zum Beispiel chemisch reine Vaseline, mit der Risse im Chininpanzer der Tiere behandelt werden müssen.“
Die Behandlung von erkrankten Spinnen ist das Fachgebiet von Lubo Kristek, einem der erfahrensten Arachnologen (Spinnenforscher) Deutschlands. Im Dachboden seines Allgäuer Bauernhauses hat der Exil- Tscheche zeitweise bis zu 800 Vogespinnen. Bis unter die Decke sind die Wänder der tropisch klimatisierten Kammer mit Glasbehältern vollgestellt. Hauptberuflich ist Kristek zwar Bildhauer und Maler, aber seit über 20 Jahren beschäftigt er sich mit Spinnen. Inzwischen hat er sich eine der exotischsten Sammlungen der Welt aufgebaut. „Bei mir sind Tiere zu Rente, die der Mensch in der Natur schon fast ausgerottet hat“, erklärt der 48jährige stolz. Ihm ist es sogar gelungen, die seltensten Tiere nachzuzüchten. Für die Hochzeitsnacht steht dem Liebespaar das größte und am schönsten eingerichtete Terrarium zur Verfügung. Kristek: „In diesem Kopulationskasten hat das Männchen eine Chance, nach der Begattung zu entkommen.“ Das sei aber nur bei ganz wenigen Arten nötig, denn daß „alle Spinnenweibchen Gattenmörder sind, ist gar nicht wahr!“
Wenn es um Verhaltensforschung geht, ist Kristek ein gefragter Ansprechpartner von Universitäten und Wissenschaftlern. Seine Erfahrungen hat er im Buch Ich hoffe für meine Vogelspinnen niedergeschrieben, für das er noch einen Verleger sucht. Nicht ganz so intensiv, aber nicht minder ernsthaft beschäftigt sich Ziebarth mit seinen Spinnen. Für jedes seiner Tiere hat er ein Notizbuch angelegt, in dem er akribisch das Leben von Blondie, Blacky und Gifti beschreibt. Wann die letzte Häutung war, Nahrungsgewohnheiten und Krankheiten. In einem „Familienalbum“ hat der Hobbyfotograf schon eine ganze Sammlung von interessanten und ungewöhnlichen Bildern. Diese und einen Videofilm über die Häutung würde er gerne auch Schulen zur Verfügung stellen. „Vielleicht könnte ich mit Vorträgen Ängste und Vorurteile gegenüber Spinnen abbauen.“
Der Münchner Psychologe Wielfried Dieter ist Spezialist auf dem Gebiet Phobien und Angstneurosen. „Oft werden unbewußte Konflikte und Ängste auf etwas projiziert, um sie greifbar zu machen. Bei Phobien sind das häufig enge Räume, Fahrstühle, aber auch Tiere, wie Schlangen, Mäuse, Hunde oder eben Spinnen.“ Diese eignen sich ganz besonders als Angstträger: „Bei Spinnen denkt man an Dunkelheit, Feuchtigkeit, an Netze mit toten Beutetieren.“ Spinnenphobien machen ungefähr ein Drittel der Tierphobien aus. Wie alle Phobien führt die Spinnenangst zu krankhaft übersteigerter Wachsamkeit.
Für die Tiefenpsychologen sind Spinnen wichtige Symbole — Dr.Dieter: „In der Traumdeutung sind Spinnen oft stellvertretend für eine dominante Mutter.“
Phobien können sich so stark entwickeln, daß sie den Betroffenen das Leben zur Qual machen. Die 22jährige Studentin Karin B. hatte schon seit sie denken kann Angst vor Spinnen. Solange sie den Tieren aber ausweichen konnte, hielt sich diese Abneigung in Grenzen. Bis zum letzten Sommer. Während eines Campingurlaubes war nachts eine Spinne auf den Schlafsack gekrochen und die Studentin erwachte. Durch die eingeengte Situation im Schlafsachk wurde das Gefühl des Ausgeliefertseins bis zur Panik übersteigert. Karin B. bekam einen Schreianfall. Erst als eine Freundin das harmlose Tier entfernt hatte, beruhigte sich Karin B. langsam. Seitdem hatte sie „keine ruhige Minute mehr“. Vor dem Schlafengehen durchsuchte sie ihr Zimmer nach Spinnen, dichtete Fenster und Türen ab und sprühte sogar Insektengift. Schon die Erwähnung des Wortes „Spinne“, selbst der Ausspruch „jemand spinnt“ löste panische Reaktionen, Angstschweiß und erhöhte Pulsfrequenz aus. Auf Anraten von Bekannten entschied sich Karin B., in Therapie zu gehen.
Lerntherapeut Dr. Serge Sulz konfrontierte sie mit ihrer Angst: „In Einzelschritten wird der Patient dem Reiz ausgesetzt“, erklärt Sulz. „Das beginnt mit Reden über Spinnen. Dann kommt das Betrachten von Photos unbd schließlich der Körperkontakt.“ Das ist der wichtigste Moment der Therapie, denn „dann merkt der Patient, daß ihm nichts Fürchterliches passiert, sondern die Spinne ganz harmlos ist“. Hat der Betroffene das erkannt, war die Therapie erfolgreich: „Auch in Zukunft wird die Person stark genug sein, solche Situationen zu meistern.“
Die Angst vor den Krabbelviechern ist ohnehin gänzlich unbegründet. Die europäischen Hausspinnen kommen mit ihren Giftzähnen kaum unter die Haut von Menschen. Selbst wenn: Ein Spinnenbiß verursacht eine kleine Quaddel und juckt wie ein Mückenstich. Nur sehr wenige, exotische Spinnenarten können dem Mensch gefährlich werden. Umgekehrt sieht die Sache schon anders aus: Durch die Zerstörung ihrer Lebensbereiche sind viele Spinnen vom Aussterben bedroht. Hinzu kommen Tierfänger, die oft ganze Landstriche leerfangen, um die begehrten Tiere an Sammler in aller Welt zu verkaufen. Steven Krasa, Vorsitzender des „Vereins der Vogelspinnen e.V.“: „Der Spinnenhandel ist finanziell ein gewaltiges Geschäft!“ Leider geht es skrupellosen Händlern nicht um die Tiere: „Vor kurzem kam eine Lieferung mit 500 Spinnen aus Südamerika. In Miami wurde die Kiste zu kalt gelagert. Nach diesem Klimaschock kamen nur drei Spinnen lebendig in Deutschland an.“
Die Vogelspinnenfreunde sind bemüht, ihre Tiere selbst zu züchten, um gefährdete Arten nicht aus ihren Heimatländern zu importieren. Vor drei Jahren hat Krasa den Verein gegründet. Mittlerweile sind schon 160 Deutsche, Schweizer und Österreicher Mitglieder geworden, um sich über Haltung und Zucht auszutauschen, Trend stark steigend. „Insgesamt dürfte es in Deutschland über tausend Spinnenbesitzer geben. Besonders die Zahl der Frauen hat sprunghaft zugenommen.“
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Neben Tagungen werden auch regelmäßig Verkaufsbörsen veranstaltet. Vereinsmitglied Thomas Ziebarth sind die ein Dorn im Auge, „denn viele Mitglieder wittern das große Geschäft und kommen nur deshalb“. Krasa: „Ich wunder mich immer wieder über die Tierquäler auf solchen Börsen. Ein Schweizer Händler, der tausende afrikanische Vogelspinnen in kleinen Plastikschachteln hält, hat seine Tiere den ganzen Tag gereizt, um den Besuchern zu zeigen, wie sie zischen können.“
Die brasilianische Vogelspinne, der „Mercedes“ unter den Achtbeinern, kostet 495 Mark
Spinnen sind in. Vielleicht gerade deshalb, weil sich viele vor den Langbeinern ekeln. Als modisches Accessoire in Form von Ohrringen und Broschen, als Motiv für T-Shirts oder Tätowierungen. Aber auch leibhaftig entwickeln sich besonders exotische Spinnen zum Renner. Zoohändler Matthias Müller („Ich kann Ihnen auch die gefährlichen Schwarzen Witwen besorgen“) verkauft Spinnen in allen Preisklassen. Für 49 Mark gibt's eine Rote Chile-Vogelspinne, der „Mercedes“ unter den Achtbeinern, die Brasilianische Riesenvogelspinne, kostet 495 Mark.
Für den Großteil seiner Kunden seien die Spinnen eher „Studienobjekte als Haustiere“. Nur bei zwei, drei seiner Kunden hat Müller den Verdacht, daß sie sich „beweisen wollen, wie furchtlos und toll sie als Beistzer dieser 'Gruseltiere‘ sind.“ Thomas Ziebarth sagt's unverblümt: „Leute, die sich Vogelspinnen zulegen, um sich damit zu brüsten, und die Tiere sogar frei in der Wohnung herumlaufen lassen, haben einen Minderwertigkeitskomplex!“ Der Verhaltensspezialist Kristek warnt davor, sich Spinnen aus Sensationsgründen zuzulegen, denn „groß ist die Enttäuschung wenn der vermeintliche Party-Schreck dann verängstigt unterm Schrank sitzt — von der Tierquälerei einmal ganz abgesehen“. Spinnen sind nämlich hochsensibel. In ungewohnter Umgebung können sich die Tiere im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode ängstigen. Forscher haben beobachtet, daß Spinnen oft bis zum Kollaps ziellos umherrennen, wenn sie aus ihrem Terrarium genommen werden.
„In einer nordbayrischen Gemeinde mußte ich mal drei Vogelspinnen bei der Polizei abholen“, schildert Steven Krasa einen Fall von Spinnenquälerei. „Ein junger Mann hatte sie sich auf die Jacke gesetzt und auf der Straße Passanten erschreckt. Das ist etwa so, wie wenn jemand seinen Goldfisch an der Leine ausführt!“
Vor allem Klimabedingungen und Freßgewohnheiten machen die Haltung von Vogelspinnen zu einem komplizierten Unterfangen. Im Terrarium müssen Temperaturen um 30 Grad herrschen bei einer Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent, sonst schimmelt die Erde oder trocknet aus. Die Nahrung muß frisch und möglichst noch lebendig sein. Während sich die Jungtiere mit Heuschrecken und Kellerasseln begnügen, verlangen die Älteren nach Hamstern oder Mäusen. Nachdem die Spinne eine Maus mit ihren Giftzähnen getötet hat, spritzt sie ein Verdauungsekret in das Fleisch und verschlingt dieses dann. Nach einer solchen Mahhlzeit kann eine Vogelspinne mehrere Monate ohne Nahrung bleiben. Zu weich darf das Herz eijes Tierfreundes allerdings nicht sein: „Die erste Maus konnte ich einfach nicht verfüttern und hab sie dann aufgezogen“, gesteht Thomas Ziebarth. Heute geht das ganz locker, nur Gattin Carola verschwindet dann immer.
Manche Spinnenhalter wollen ihre pelzigen Lieblinge wie sich selbst verwöhnen — mit Rinderfilet. Der gute Vorsatz kann aber böse enden, denn im Fleisch enthaltene Wachstumshormone können sofort eine unplanmäßige Häutung auslösen, an der das Tier dann eingeht. Ziebarth deshalb: „Für Gifti, Blondie und Blacky kaufe ich nur beim Bio-Bauern!“
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