: Die Rückeroberung der Vergangenheit
■ Die versteckten Schätze der bulgarischen Literatur
Todor Schiwkoff, der gestürzte Vorsitzende des Staatsrates in Bulgarien, war Osteuropas dienstältestes Staatsoberhaupt. Unter seinem 43 Jahre währenden Regime präsentierte sich das Land nach außen als eines, das im festen Griff stalinistischer Kultur monolithisch und stabil wirkte. Dieses Bild spiegelte sowohl die relative Prosperität des Staates als auch seine engen Bindungen an die Sowjetunion wider. Demgegenüber erscheint das Leben in Bulgarien heute, wie fast überall im „postrevolutionären“ Balkan, im ständigen Fluß; die einzige Konstante ist offenbar, daß die Menschen pausenlos damit beschäftigt sind, die ökonomischen Veränderungen zu überleben.
Die Rückeroberung ihrer Vergangenheit und die Diskussion der laufenden Ereignisse wird den bulgarischen Schriftstellern durch die ständige Sorge um ihre Finanzen erschwert. Im Juli und Oktober 1990 sprachen Schriftsteller und Verleger über ihre Erfahrungen im letzten Jahr und über Schreiben und Publizieren unter Schiwkoff.
Die Schriftsteller Bulgariens beklagen, daß der Westen keine Vorstellung hat von ihrer Literatur, die während des Kalten Krieges entstand. Zum Teil gehe das sicher auf den Erfolg des Staates zurück, mit dem er die Schriftsteller des Landes zum Schweigen gebracht habe. Kiril Kadiiski, der Herausgeber einer neuen literarischen Monatszeitschrift mit dem Titel 'Das goldene Horn‘ (früher Samisdat), und der Lyriker Pavel Slaviansky führten aus, daß nur Werke von Schiftstellern, die der Partei genehm waren, publiziert werden konnten. Die Arbeiten dissidentischer Schriftsteller mußten außer Landes geschmuggelt werden und wurden dann im Ausland veröffentlicht, ohne daß die Autoren davon wußten.
Die Exklusivität der Schriftstellergewerkschaft — war man kein Mitglied, hatte man außerordentliche Schwierigkeiten zu veröffentlichen — sowie Vorwürfe des „Hooliganismus“ und anderer Vergehen gegen die öffentliche Ordnung trieben viele Schriftsteller ins Exil: unter anderem Julia Kristeva, Svetlan Todorov, Atanas Slovov und Pierre Rouve.
Seit der kommunistischen Machtübernahme 1947 ist nur eine Handvoll Samisdat-Literatur gedruckt und unter die Menschen gebracht worden, die einzige, die nicht durch die Schriftstellergewerkschaft autorisiert worden ist. Wer heute verlegerisch arbeitet, wie etwa Kadiiski, muß daher nicht nur die Literatur wieder ausgraben, sondern auch die wenigen Intellektuellenzeitschriften der bulgarischen Kultur, die jahrelang verboten waren.
Der Name seiner Zeitschrift 'Das goldene Horn‘ bezieht sich auf den Titel der gleichnamigen berühmten Literaturzeitschrift, die in den zwanziger Jahren gegründet wurde und 1943 zur Schließung gezwungen war. Das erste Heft der Nachfolgezeitschrift enthielt Gedichte von Bulgariens berühmtester Dissidenten- Lyrikerin und Theaterschriftstellerin Blaga Dimitrova. In der zweiten Ausgabe meldete sich mit einer kurzen Erzählung Vladimir Vassilev zu Wort, der lange Zeit Herausgeber der Originalzeitschrift gewesen war und dessen Arbeiten seit dem Zweiten Weltkrieg verboten waren. Ein Diskussionsteilnehmer bekennt, daß man keine Vorstellung von der seit 1945 im außerslawischen Ausland erschienenen Literatur mehr habe.
Vor 1989 verstaubten die Manuskripte von Schriftstellern wie beispielsweise dem Lyriker Pavel Slaviansky, der nicht Mitglied der Schriftstellergewerkschaft war, in den Regalen der Verlage. Seine Freude war grenzenlos, als er schließlich nach zwölfjähriger Wartezeit seinen Band Cornucopia, der 1990 herauskam, in den Händen hielt. Seine Geschichte ist eine Geschichte endloser Geduld. Bereits 1978 hatte er das Manuskript an den Staatsverlag „Narodna Modesh“ geschickt, sechs Jahre später bekam er es zurück. Er reichte es dann bei einem der ältesten bulgarischen Verlage, „Christo G. Danov“, ein — der es wieder sechs Jahre später veröffentlichte. Slaviansky spielte auf einen zweiten, noch unveröffentlichten Band mit dem Titel Die Sanduhr an, als er sagte: „Wir können in der oberen Hälfte der Sanduhr jetzt wieder frei atmen, da der Sand wieder durchläuft.“
In den Optimismus der ersten Stunde nach dem November 1989 mischten sich schon in den ersten Monaten Spannungen und Ängste. Noch im Juli 1990 wartete die neugegründete Unabhängige Schriftstellergewerkschaft Bulgariens auf ihre offizielle Anerkennung und damit Gleichstellung mit der früheren Parteiorganisation, nachdem sie bereits im Januar ihren Antrag bei der zuständigen Behörde abgegeben hatte. Ihre Mitglieder benutzten mit einiger Verunsicherung Café, Bar und Buchladen der alten Gewerkschaft und sprachen mit immer noch gedämpften Stimmen über die großen Veränderungen, die folgen würden. Neben ihnen saßen weiterhin die alten Kritiker, denen sie zum Vorwurf machten, daß ihre Werke nie an die Öffentlichkeit gelangt waren.
Über diese Kritiker sagte Kadiiski: „Bis November 1989 schrieben diese Leute literarische Analysen, die ein Bild der bulgarischen Literatur entwarfen, wie es den obersten Herren genehm war. Es gab drei Arten von Buchkritik: tolerant — fürs Mittelmaß, negativ — für Begabte, und positiv — für Werke unserer politischen Führer! Eine Verkehrung der Maßstäbe für literarische Werte in der bulgarischen Literatur.“
Seit der Unterdrückung von Vorkriegszeitschriften wie dem 'Goldenen Horn‘ waren nur zwei Periodika für kurze Zeit im Samisdat erschienen. Die eine hieß 'Glas‘ (Stimme) und die zweite 'Moct‘ (Brücke); beide erlebten nur wenige Ausgaben von jeweils 100 bis 150 Heften pro Auflage, die vor allem in den literatischen Kreisen von Sofia zirkulierten; einige wenige fanden als Fotokopien ihren Weg auch in kleinere Städte.
Zur Zeit der Veränderungen im November 1989 standen die beiden Verantwortlichen, Edwin Sugarev und Vladimir Levchev, wegen ihrer Zeitschriften vor Gericht. Levchev ist der Sohn eines der höchsten Funktionäre der alten Gewerkschaft, Lyubomir Levchev, und inzwischen Mitglied der oppositionellen Union der Demokratischen Kräfte. Sein Vater ist weiterhin Parteimitglied, heute der Sozialistischen Partei Bulgariens (früher KP).
Die Wochenzeitung 'Literary Forum‘ ist das Hauptorgan der bulgarischen Schriftstellergewerkschaft. Die Spannungen innerhalb der Zeitung spiegeln die Spannungen innerhalb der Gewerkschaft und im Land als Ganzes. Marco Ganchev, Chefredakteur der Zeitung und Parlamentsabgeordneter der Union der Demokratischen Kräfte, versucht seit dem letzten Sommer, die Struktur der Zeitung zu verändern und mehr Mitarbeiter zu gewinnen, die neue politische Richtungen einschlagen; gleichzeitig versucht er, auch die alten Mitglieder der Gewerkschaft nicht vor den Kopf zu stoßen. Prominente Literaten wie etwa Blaga Dimitrova, Gheorghe Minchev und Dimiter Korughiev unterstützen zusammen mit jüngeren Schriftstellern die Union. Die Stimmung innerhalb der Gewerkschaft und im Land scheint langsam zu ihren Gunsten umzuschwenken.
Die Nomenklatura innerhalb der Gewerkschaft zu stürzen, ist ein zweites Problem. Obwohl die Schriftstellergewerkschaft nicht mehr von der Nomenklatura dominiert wird, spielt Parteipolitik in allen Kulturangelegenheiten weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle; und der Gewerkschaftsvorsitzende ist weiterhin auch Parlamentsabgeordneter der Sozialistischen Partei. Immerhin hat das Bedürfnis nach Pluralität soweit gereicht, daß jemand wie Ganchev Chefredakteur des 'Literary Forum‘ werden konnte. Einer der Redakteure, der Lyriker Lyubomir Nikolov, betont, daß es auch für Parteimitglieder einen Platz in der Gewerkschaft geben sollte — solange sie gute Schriftsteller sind.
Die Zensur war in Bulgarien früher so perfekt, daß bulgarische Zeitschriften heute ein in vielen Fällen völlig ignorantes Publikum über ihr intellektuelles und literarisches Erbe erst aufklären müssen. Die Schwesterzeitung von 'Literary Forum‘, das monatlich erscheinende 'Dossier‘, wird von der gleichen Redaktion herausgegeben. Hier werden ausschließlich Texte veröffentlicht, die unter Schiwkoff verboten waren; beide Zeitschriften sind jedesmal sofort ausverkauft. Lyobomir Nikolov sagte, daß die jetzige Auflage von 35.000 dennoch nicht erhöht werden kann — wegen Papiermangels. „Der Kampf um Veränderung geht unter den Schriftstellern wirklich sehr zivilisiert vor sich. Daß wir uns gleich gegen ein so barbarisches ökonomisches Desaster behaupten müssen“, meint Nikolov, „ist wirklich zum Heulen.“
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