piwik no script img

Jede Menge Daten — jede Menge Chaos

Datensammlungen gab es in der DDR im Überfluß — doch Datenschutz ist bis heute noch ein Fremdwort/ In den neuen Bundesländern fehlen Melde- und Datenschutzgesetze/ Das Kernstück der DDR-Bürgererfassung, das Zentrale Einwohnerregister, einfach weiterzuführen, wäre verfassungswidrig  ■ Von Vera Gaserow

Nein, von einem „Notstand“ oder gar einem verfassungswidrigen Zustand möchte man im Haus des Bundesdatenschutzbeauftragten in Bonn nicht sprechen, eher von einer „fast chaotischen Lage“. Das klingt nicht ganz so dramatisch und immerhin, „es hätte alles viel schlimmer kommen können“. Was der Sprecher des Datenschutzbeauftragten mit heruntergespielter Dramatik beschreibt, wäre unter normalen Bedingungen eine Situation, die jedem Datenschützer die Haare zu Berge stehen lassen müßte: das Datenchaos in der ehemaligen DDR. Denn die fünf neuen Bundesländer sind bisher ein Territorium, in denen ohne jegliche Kontrolle munter persönliche Daten gesammelt, gespeichert und verschoben werden können. Datenschutzgesetze befinden sich, wenn überhaupt, erst in Arbeit, Datenschutzbeauftragte gibt es bisher in keinem der fünf neuen Länder und der Bundesdatenschutzbeauftragte, der formal so lange für die Ex-DDR zuständig ist, bis die Länderstrukturen aufgebaut sind, ist weit weg und nach eigenen Aussagen „da drüben faktisch nicht vertreten“. Außerdem, „wie soll man eine Rechtslage kontrollieren, wo bisher gar kein Recht vorhanden ist“?

Dabei wird derzeit in den Verwaltungen der fünf neuen Länder nicht nur „gesammelt und gesammelt, und keiner weiß, was mit den Daten passiert“, so der Berliner Datenschutzbeauftragte Hans-Jürgen Garstka. Die neuen Länder sitzen darüberhinaus auch auf einer bisher nur unvollständig erschlossenen Datenaltlast, denn wenn es in der Ex-DDR eines im überfluß gab, dann waren es genaueste persönliche Daten über die Bevölkerung. Und diese Daten lagen bei weitem nicht nur bei der Stasi. Die Stasi hatte zwar unbeschränkten Zugang zu Datensammlungen und wußte genau, wie sie welche Informationsquellen erschließen konnte. Das Arsenal von Datensammlungen, mit denen das DDR-Regime seine BürgerInnen durchleuchtete und kontrollierte, geht jedoch weit über Geheimdienstschnüffeleien hinaus: da gab es zum Beispiel eine zentrale Datei über das „gesellschaftliche Arbeitsvermögen“, in der über Ausbildungstand und berufliche Fähigkeiten sämtlicher DDR-Bürger Buch geführt wurde. Da wurden ungezählte kriminalistische Datensammlungen zum Teil mit Finger- und sogar mit Ohrabdrücken immer auf den neuesten Stand gebracht. Da wurden Kaderdateien angelegt, in denen nicht nur simple Personaldaten gespeichert waren, sondern auch Angaben über Linientreue und die jährlichen Leistungsprämien. Bei den Rundfunk- und Fernsehanstalten registrierte man die Briefeschreiber der Zuschauer- und Hörerpost. Im Kulturministerium wurde erfaßt, wer wann wo auf welcher Veranstaltung aufgetreten ist, und über die staatliche kommunale Wohnungsverwaltung gab es einen genauen überblick, wer mit wem zusammenlebte, und wer wie oft und wohin umgezogen war. Eingaben und Beschwerden an staatliche Einrichtungen wurden ebenso zentral erfaßt wie Auslandsreisen oder Westkontakte.

Mit fürsorglicher Belagerung kümmerte sich der SED-Staat aber vor allem um das gesundheitliche Befinden seiner BürgerInnen. „Für jede halbswegs relevante Krankheit“, so der Berliner Datenschutzbeauftragte Garstka, „gab es ein Register“, das Ärzte und Polikliniken gemäß einer Meldepflicht mit Patientendaten speisten. Eines der größten dieser Gesundheitsregister ist das nationale Krebsregister der DDR, das nach wie vor einen genauen Überblick über sämtliche Krebserkrankten der fünf neuen Länder birgt.

Wichtiges Kernstück der Bürgererfassung war jedoch das Zentrale Einwohnerregister der DDR (ZER). Elektronisch aufgearbeitet und abrufbar liegen hier in Biesdorf bei Berlin sämtliche Meldedaten der gesamten DDR-Bevölkerung. Das ZER speicherte dabei in der Vergangenheit nicht nur Geburtsdaten, Familienstand, Umzüge, Führerscheininhaber oder Waffenscheinbesitzer der gesamten Republik, sondern erfaßte dabei auch hochsensible Daten wie Westkontakte, Reisen, Grenzverletzungen, Ausreiseanträge, Angaben über Sommerwohnungen, Versicherungsabschlüsse oder die jeweiligen Arbeitgeber eines jeden DDR-Bürgers. Schlüssel zu diesem unerschöpflichen Datenlabyrinth war ein zwölfstelliges Personenkennzeichen, das jeder DDRler von der Wiege bis zur Bahre unverwechselbar mit sich trug und über das zahlreiche Institutionen wie zum Beispiel die staatliche Versicherung oder Reisebüros mühelos Datenbestände beim ZER erfragen konnten.

Das Zentrale Einwohnerregister, ein selbst für die nicht gerade datenarme Bundesrepublik ein riesiger Datenmoloch, macht jedoch auch die Schwierigkeiten des Umgangs mit den Datenaltlasten der DDR deutlich: Eigentlich ist nach bundesdeutschem Recht ein solches zentrales Meldesystem unzulässig und einem Personenkennzeichen, wie es die DDR als Schlüssel benutzte, hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren eine klare Absage erteilt. Andererseits ist das ZER die einzige funktionierende Institution, die einen Überblick über die Meldeadressen in Ostdeutschland hat. Denn dezentrale Melderegister, wie sie für die alten Bundesländer nach dem Melderechtsrahmengesetz vorgeschrieben sind, gibt es in den noch chaotisch organisierten Länder- und Kommunalverwaltungen bisher nicht. „Im Grunde genommen ist das ZER unzulässig, und wenn wir wüßten, wie es anders gemacht werden könnte, hätten wir auch schon längst laut aufgeschrien, aber wenn wir das ZER jetzt abschaffen, würde da drüben nichts mehr funktionieren“, beschreibt Werner Schmidt, Sprecher des Bundesdatenschutzbeauftragten die realexistierende Zwickmühle. Im Einigungsvertrag heißt es zum ZER in vagen Formulierungen, es sei so schnell wie möglich aufzulösen, spätestens jedoch bis zum 31.12. 1992. Bis dahin sollen all die Datenbestände in dem Zentralen Register, die über die bundesüblichen Meldedaten hinausgehen, „entflochten“ und bereinigt werden. Teile des Datenmolochs, wie zum Beispiel die Führerscheindatei oder die Kriminalregister sind inzwischen an die Zentrale Verkehrsdatei in Flensburg und an das Bundeszentralregister umverteilt worden. Andere Daten, so heißt es jedenfalls, seien mittlerweile längst gelöscht. Inzwischen gibt es von seiten der fünf neuen Länder jedoch auch Bestrebungen, das Zentrale Melderegister in Biesdorf über die im Einigungsvertrag vorgesehene Frist hinaus weiterzuführen aus vordergründig ganz pragmatischen Gründen: Schließlich ist es billiger und bequemer eine schon bestehende Einrichtung einfach weiterzuführen, als in den Kommunen eigene Meldesysteme aufzubauen — ein Ansinnen, das der Berliner Datenschutzbeauftragte schlicht für verfassungswidrig hält.

Aber auch in anderen Bereichen gibt es Begehrlichkeiten, die alten DDR-Datenbestände — so sie nun schon einmal vorhanden sind — auch weiter zu nutzen. So ist zum Beispiel nach wie vor offen, was mit dem Nationalen Krebsregister der Ex-DDR passieren soll, das nach bundesdeutschem Recht ebenfalls unzulässig wäre. Derzeit scheut man sich, die Daten einfach zu löschen, weil möglicherweise medizinische Informationen, die zum Nutzen von Patienten sein könnten, vernichtet würden. Andererseits ist es auch ein offenes Geheimnis, daß Krebsforscher und Pharmaindustrie, die seit geraumer Zeit in der Bundesrepublik für ein Krebsregister plädieren, nur allzu gern Zugriff auf diesen unverhofft bescherten Datenschatz haben würden. Ungeklärt ist aber auch, was mit den vielen kleinen dezentralen Datensammlungen in den Betrieben, Polikliniken, Gesundheitsberatungen oder Wohnungsverwaltungen passiert. Etliche, so Datenschützer Garstka, „vagabundieren derzeit irgendwo in der Gegend herum“. Daß damit in großem Maße Schindluder betrieben oder gehandelt wird, daran glaubt man beim obersten Datenschützer der Republik in Bonn nicht. Aber auch wenn es der Fall wäre, man würde es kaum erfahren. Und es gäbe derzeit auch keine Institution, die sich darum kümmern würde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen