: »Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen...«
■ Von höchst seltsamen Geschichten, die der deutschstämmige Sowjetbürger Dr. Heinrich Fäustling als Ostertourist in Berlin erlebte
Berlin. Gründonnerstag, 12 Uhr, Joachimsthaler Straße Ecke Kurfürstendamm. Dr. Heinrich Fäustling (63), ein deutschstämmiger Sowjetbürger, wird von einem Touristenbus auf den Ku'damm ausgespuckt. Staunend steht er mit seiner Vorkriegs-Leika in den strömenden Massen: Zum ersten Mal kann er den Westen mit Händen greifen. Die Luft ist lau, das Licht blitzt in den Schaufenstern.
Dr. Fäustling ist verwirrt, ihm dreht sich der Kopf. Wohin soll er sich zuerst treiben lassen in dieser Menschen- und Warenflut? Die Menge nimmt ihm die Entscheidung ab und schiebt ihn in Richtung Gedächtniskirche.
Neben einer Gruppe von Jugendlichen läßt er sich auf einer Sitzbank nieder. Seltsam erscheinen sie ihm: Alle stecken sie in den gleichen weiten Jeanshosen und schlabbrigen Jacken. Jungen und Mädchen sind kaum zu unterscheiden. Einer — es ist wohl ein Junge — trägt auf seinen Schultern einen riesigen schwarzen Kasten, aus dem musikähnliche, klopfende Maschinengeräusche dringen.
Schüler: »Blitz, wie die wackern Dirnen schreiten! Herr Bruder, komm! wir müssen sie begleiten. Ein starkes Bier, ein beizender Toback, und eine Magd im Putz, das ist nun mein Geschmack.«
Bürgermädchen: »Da sieh mir nur die schönen Knaben! Es ist wahrhaftig eine Schmach; Gesellschaft könnten sie die allerbeste haben, und laufen diesen Mägden nach!«
Zweiter Schüler (zum ersten): »Nicht so geschwind! dort hinten kommen zwei, sie sind gar niedlich angezogen, 's ist meine Nachbarin dabei; ich bin dem Mädchen sehr gewogen. Sie gehen ihren stillen Schritt und nehmen uns doch auch am Ende mit.«
Lärmend und kichern ziehen die Mädchen ab. Die Jungen folgen ihnen. Dr. Fäustling ist erstaunt: Kein Lehrer scheint sich um die Halbwüchsigen zu kümmern. Lange sieht er ihnen hinterher.
Dr. Fäustling zieht die Schultern zusammen. Vorsichtig versucht er die Blicke der Vorbeiziehenden zu erhaschen, aber niemand schenkt ihm Beachtung. Plötzlich bleibt eine Gruppe von älteren Bürgern vor seiner Bank stehen.
Sie scheinen in eine erregte Diskussion verwickelt. Einer der Männer hat eine kleine Plakette am Revers: »SPD — Mit uns in die Zukunft«, kann Dr. Fäustling entziffern.
Bürger: »Nein, er gefällt mir nicht, der neue Bürgermeister! Nun, da er's ist, wird er nur täglich dreister. Und für die Stadt was tut denn er, wird es nicht alle Tage schlimmer? Gehorchen soll man mehr als immer, und zahlen mehr als je zuvor.«
Alle nicken beifällig mit dem Kopf. Bevor Dr. Fäustling ihrem Gespräch weiter folgen kann, ziehen sie laut debattierend weiter.
Heinrich Fäustling stößt einen leisen Seufzer aus und knöpft seinen Mantel auf. Der Trubel erschöpft ihn, die Menschen mit den vollgepfropften Tüten, die vorbeirasenden Autos ...
Mit einem Ruck erhebt er sich von der Bank und steuert auf ein großes Schild mit einem blauen U zu. Ist das die Metro? Er will nur mal gucken. Wenn sie schon in Moskau so prächtig in Marmor ausgestattet ist, wie wird sie erst im goldenen Westen sein?
Doch der lange Gang, der sich am Fuße der Treppe öffnet, wirkt duster und schmuddelig. Ein Bettler steht mit einer Drehorgel am Rande und streckt ihm seinen Hut entgegen:
Bettler: »Ihr guten Herrn, ihr schönen Frauen, so wohlgeputzt und backenrot, beliebt es euch, mich anzuschauen, und seht und mildert meine Not! Laßt hier mich nicht vergebens leiern! Nur der ist froh, der geben mag. Ein Tag, den alle Menschen feiern, er sei für mich ein Erntetag.«
Dr. Fäustling fühlt sich wie zu Hause. Er kramt in seiner Manteltasche und legt ihm einen Rubel in den Hut. Doch die Miene des Bettlers verzieht sich, wütend wirft er ihm den Rubel hinterher. Da erst bemerkt der Doktor seinen Irrtum. Doch bevor er die Münze in ein Markstück umtauschen kann, wird er von der Menge in eine gerade haltende U-Bahn gedrängt. »Nach Schlesisches Tor zurückbleiben!«
Proppenvoll ist es im Waggon. In einer Ecke stehen junge und ältere Menschen, teilweise mit eingerollten Transparenten in den Händen. »Dies war das letzte Mal, daß ich zum Frieden mahnte«, hört er eine Frau zu einem jungen Mann sagen. Doch der erwidert mit einem kleinen Lächeln:
Mann: »Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends froh nach Haus und segnet Fried und Friedenszeiten.«
Ein dritter Bürger auf einer Sitzbank mag da auch nicht an sich halten:
Bürger: »Herr Nachbar, Ja! so lass ich's auch geschehn: Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag all durch einander gehn; doch nur zu Hause bleib's beim alten.«
Inzwischen hat die U-Bahn ihren dunklen Schacht verlassen und rattert als Hochbahn über die Gleise. Dr. Fäustling genießt den Ausblick auf alte Häuserzeilen und verkrautetes Gelände. Warum hier nicht aussteigen und die Dinge näher betrachten? Quietschend hält die Bahn neben einem Schild: »Möckernbrücke«.
Er schlendert die Treppe hinunter, bleibt eine Weile auf der Brücke über den Fluß stehen und biegt dann rechts in eine »Großbeerenstraße« ab.
An deren Ende sieht er einen Wasserfall blitzen, der von einem Berg hinabstürzt. Neugierig läuft er darauf zu und gerät in einen hübschen kleinen Park. Obwohl er das Alter schon in den Knochen spürt, erklimmt er den kleinen Berg und läßt sich oben auf den Stufen eines Denkmals nieder.
Während Dr. Fäustling tief und befreit einatmet, fühlt er sich plötzlich an seine Jugendzeit erinnert:
Dr. Fäustling: »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick, im Tale grünet Hoffnungsglück; der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in rauhe Berge zurück. Von dorther sendet er, fliehend, nur ohnmächtige Schauer körnigen Eises in Streifen über die grünende Flur; aber die Sonne duldet kein Weißes, überall regt sich Bildung und Streben, alles will sie mit Farben beleben; doch an Blumen fehlt's im Revier, sie nimmt geputzte Menschen dafür. Kehre dich um, von diesen Höhen nach der Stadt zurückzusehen.
Glückselig schwebt Dr. Fäustling auf der Spitze des Kreuzberges zwischen Himmel und Erde. Stundenlang könnte er so sitzen ...
Plötzlich spürt er etwas Nasses an seinem Hosenbein. Er springt auf und hätte fast einen kleinen schwarzen Pudel zu seinen Füßen zertreten, der ihm ans Bein pinkelt. »Jolki Palki«, entfährt es Dr. Fäustling auf russisch, »Tod und Teufel, wer bist denn du?« Der Pudel starrt ihn an und beginnt ihn knurrend zu umkreisen:
Dr. Fäustling: »Knurre nicht, Pudel! Zu den heiligen Tönen, die jetzt meine ganze Seel umfassen, will der tierische Laut nicht passen. Wir sind gewohnt, daß die Menschen verhöhnen, was sie nicht verstehen, daß sie vor dem Guten und Schönen, das ihnen oft beschwerlich ist, murren; will es der Hund, wie sie, beknurren?«
Doch der Pudel läßt sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil, sein Knurren wird immer lauter und wilder. Mit Schrecken sieht Dr. Fäustling entsetzliche Veränderungen vor sich gehen. Die Sonne trübt sich:
Dr. Fäustling: »Wie wird mein Pudel lang und breit! Er hebt sich mit Gewalt, das ist nicht eines Hundes Gestalt! Welch ein Gespenst bracht ich hinaus! Schon sieht er wie ein Nilpferd aus, groß mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß. Oh! du bist mir gewiß!«
Plötzlich taucht aus dem schwefligen Nebel eine grüne Gestalt auf. »Wuttke, Ausländerpolizei, guten Tag. Kann ich bitte mal Ihre Papiere sehen?«
»Das also war des Pudels Kern!« schaudert Dr. Fäustling. Ute Scheub, Nana Brink,
Johann Wolfgang von Goethe.
Alle Zitate aus der Szene:
»Osterspaziergang«, Faust I.
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