Nur Mut zur Lücke!

■ Vom möblierten Zimmer zum Ausziehsofa und zurück

Mit zwei Koffern in der Hand, ganz neu wollte ich anfangen in Berlin. Die erste Zeit schlief ich auf einem Feldbett, umringt von Bauschutt und Zement. Daß um mich herum saniert wurde, störte mich damals nicht. Wollte ich doch auch mein eigenes Leben sanieren. Die Großstadt rief! Ich lernte Sprachen zwischen Bohren und Hämmern. Jeden Tag schaute ich Traumwohnungen an, füllte täglich Anträge aus, halluzinierte ein Leben in Ein-, Zwei-, Dreiraum- oder wändelosen Unterständen, machte wohngemeinschaftliche Zugeständnisse, die ich im letzten Augenblick wieder zurückzog. In langen Gesprächen belagerten wir uns, um dem Gegenüber die Lieblingskäsesorte, Farbenphobie oder den Grad der seelischen Belastbarkeit zu entlocken. Was man für Tee zu trinken hatte! Es war meistens die einzige Gemeinsamkeit, wie sich schon bei der Begrüßung herausstellte. Trotzdem wollte ich nicht unhöflich sein und meine halbe Stunde, die mir die Wohngemeinschaft widmen wollte, ausfüllen. Lebenssitten und -gewohnheiten auch exotischer MitbürgerInnen studieren kann nie von Übel sein.

Meine Zukunftspläne ließen mich bisweilen in Regionen vordringen, die ich mir selber bis dahin nicht zugetraut hätte. Wohnungen mit aufgeteilten Wäschekörben für 30, 60, 95 Grad, weiße, bunte, schwarze, gelbe Wäsche öffneten sich. Für drei Monate dürfte ich ein möbliertes Zimmer benützen — die Bewohnerin weilte in Kenia —, in ihrem Bett schlafen, von ihrem Schreibtisch Gedanken lesen, in ihren Büchern wühlen. Vor mir auf dem Teppich suhlte sich mein künftiger Mitbewohner, klärte mich über Eigenheiten und Übelkeiten seiner Wohngenossen — alles Psychologen — auf.

Auch er wäre aus einer persönlichen Krisensituation zu diesem Studium gekommen und verhörte sich oft selbst über Sein und Sinn. Angeregt unterhielten wir uns über einige absonderliche Fallstudien bei Freud, den ich vor Jahren in einem Anfall von Wissensdurst ziemlich bewußtlos konsumiert hatte. Sympathisch war er schon, dieser Johannes oder Helmhold. Auch die Kinderkrabbelecke (»die Wohnung ist auch unsere Praxis«) wollte ich hinnehmen. Einer von ihnen nämlich, sagte Helmhold mit Gewicht, sei ein Journalist. Journalist? Ich wollte doch Journalist werden! Eine einmalige Chance, sich an die Medien anzustöpseln (die mich 400 Mark Miete und 100 Mark Käsezuschuß kosten würde). Nur schade, daß sich der Journalist dann als Psychologe herausstellte, der ab und zu in seinem Fachblatt veröffentlichte.

Monate später, ich hatte einige anstrengende Untermiet-Verhältnisse hinter mir, konnte ich endlich meine Koffer in einem gepachteten Eigenheim unterstellen. Ein Gefühl, etwas Bedeutendes erreicht zu haben, machte sich breit. Jetzt wollte ich wohnen! Ich fuhr täglich nach Reinickendorf, Buckow, Rudow, Siemensstadt; besichtigte in Einfamilienhäusern Rattanregale, in Wohnbunkern erbrochene Schaukelstühle, in Miethöhlen französische Liegen, vier Meter breit, in goldenem Gestühl. Ich legte mir eine Auswahl der schönsten Gerätschaften zu, hängte einige Bilder auf, durch die der Raum gewönne, dachte ich mir, lehnte mich zurück und hatte für einen Augenblick den Eindruck — zu wohnen. Ich strich gegen alle Warnungen den Boden weiß, blank weiß und hatte bald ein interessantes Sprenkelmuster. Ich legte mir schillernde, wehende Riesenpflanzen in raffinierten Grüntönen zu. Eine davon hatte ich auf dem Markt gekauft, sie hatte Läuse. Nach dreiwöchiger Behandlung mit schwarzem Tee gesundete der Holunder.

Leider ging er mitsamt seiner Genossen im folgenden heißen Sommer an Unterernährung zugrunde. Ich weiß nicht mehr, wann ich die Hoffnung aufgab und in tiefste, gleichgültige Verzweiflung stürzte. Daß die Dusche verstopfte, die Schleuder leckte, der Ofen mich ersticken wollte, war nur konsequent. Poster verloren erst eine, dann zwei Stecknadeln und blieben schließlich am Boden liegen. Die Wand, die makellos weiß bleiben sollte, wurde brutal regalisiert. Die nostalgische Nähmaschine, mit der ich mir einst eine Wohnung erkaufen wollte, wurde zum Fernsehständer degradiert. Aus heizungstechnischen Gründen mußte der Schlafbereich in das Wohnzimmer verlegt werden und der Schreibtisch neben den Ofen gestellt werden. Der Raum wuchs mir über den Kopf; alle Harmonie, die ich nächtelang austüftelnd als übermächtigen Wunsch in diesen Raum projiziert hatte, kehrte sich hämisch grinsend gegen mich. Ein Aufenthaltsraum, nichts anderes hatte ich mir geschaffen. Lag es an mir, am Raum, am Leben selber?

Alles wird besser, dachte ich mir, als ich mich umziehend veränderte. Jetzt konnte ich meinen Schreibtisch endlich vor das Fenster stellen. Jetzt brauchte ich meine Dusche nicht mehr heizen. Jetzt konnte ich richtig, eigentlich und wahrhaft wohnen. Ganz neu anfangen, dachte ich mir. Ein Bett kaufen, mit Schubfächern. Ein Sofa, zum Ausziehen. Einen Kleiderschrank, mit Schiebetüren. Einen Teppich, zum Wohlfühlen.

Den hellen Teppich schmiß ich ziemlich bald in einem Wutanfall in die Mülltonne. Es gibt nichts schlimmeres als einen schmutzigen Wolllappen im Zimmer. Das Bett und das Sofa konkurrieren bis heute miteinander um das Erstkaufsrecht. Nach drei Monaten verunglückte die fast neu gekaufte Waschmaschine tödlich. Eine mir avantgardistisch erscheinende Stehlampe verbrannte sich den Papier-Lampenschirm an der Birne. Das Ikearegal, acrylgetönt, kränkelt splitternd vor sich hin.

Letztlich bin ich zur Überzeugung gekommen, daß die Lust am Kaufen oder besser die Lust an einer potentiellen Neuerwerbung der schalen Befriedigung von Wünschen vorzuziehen ist. Ein Leben im Provisorium ist ja, philosophisch gesehen, einer Schrankwandexistenz bei weitem vorzuziehen. Kisten in der Wohnung suggerieren immerwährende Bereitschaft zum Aufbruch. Geistige Beweglichkeit zeigt sich durchaus auch im Mut zur Lücke. Sollte mich wieder einmal das Gefühl überkommen, ich müßte mein Sein renovieren, es gibt ja noch anderes, was man wechseln kann: die Frisur, den Freund, die Feinde, die Festplatte oder die Feinbäckerei. Dorothee Hackenberg