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Verliebt ins Lügenleben

■ Henrik Ibsens »Peer Gynt« im Deutschen Theater

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem lärmbeschallten Konferenzsaal und grübeln über wichtige Entscheidungen. Da geht die Tür auf und ein Kamel kommt herein, geführt von einem Scheich, der immerfort schreit: »Des Sultans Schmuck ist gestohlen! In den frühen Morgenstunden! Siebenundsiebzig auf die Sohlen! Jedem, der bis morgen nichts gefunden!« Noch dazu ist das Kamel aus Pappmaché und Stoff, und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es sanftmütig mit den Augendeckeln klappert und das Maul im Silbentakt öffnet und schließt. Und schließlich quetscht sich das Kamel, nachdem es sich so bemerkbar gemacht hat, wieder rückwärts durch die samtbeschlagene Tür, augenklappernd und maulig.

Daß der Konferenzsaal in diesem Fall das gediegene Deutsche Theater war, wo eben Ibsens Peer Gynt gegeben wurde und also von der Anlage her allerlei Kamele im Depot lauern können, ändert nichts am Überraschungseffekt. Theater ist meistens eine ziemlich ernsthafte Sache, zumal, wenn es sich auf gute viereinhalb Stunden ausdehnt. Und eben noch hatten wir einem schwarzgeränderten Herrn namens Begriffenfeldt gelauscht, der dem Helden, der nun schon über zwei Stunden durch das Stück stolperte, über das Selbst, dessen Sinn, Schein und Sein eine hegelianische Vorlesung hielt. Hier könnte man meinen, kommt Ibsen endlich zu sich selbst, wenn er den Lügenbeutel Peer Gynt, der die Welt durchquerte, um zu sich selbst zu finden, über seinen armseligen Narzißmus belehrt. Falsch. Hier kommt Regisseur Friedo Solter endlich zu sich selbst, wenn er all die Lügenträume Peer Gynts, die er zwei Stunden lang auf der Bühne wunderbar wahr machte, gnadenlos mit einem Kamel durchkreuzt, um eine Umbaupause zu überbrücken, was Dr. Begriffenfeldt auch noch selber zugibt. Ob man diesen Desillusionierungsakt bedauern soll, ist die Frage. Irgendwie kann sich Solter nicht entscheiden, was er eigentlich will.

Dabei führt er Ibsen nur ein kleines Stückchen weiter, der im fünften Akt bemerken läßt: »Man stirbt nicht mitten im fünften Akt.« Also war Ibsen selbst ein Märchenerzähler mit Sinn für die Produktionsbedingungen, und wenn der Dichter Ibsen auch ein Welt- und Seelendrama mit Spurenelementen von Goethes Faust aufführt, so schrieb er doch, wie Fontane meinte, als der Apotheker Ibsen: „Er ist den Apotheker nicht losgeworden, und das spukt nun in seinen Stücken, seinen Problemen und Tendenzen, und auch in seiner Konversation. Er ist immer ein kleiner Apotheker, der abwartet und dribbelt und auf der Lauer liegt. Überall der kleine, verrückte Apotheker, der sich, weltabgeschieden, in eine furchtbare Frage verbohrt.“

Diese sympathische Apothekerperspektive, die Illustrationskünste der Regie und das außerordentliche Durchhaltevermögen des jungen Peer-Gynt-Spielers Daniel Morgenroth, der mindestens siebzig Prozent des Mammuttextes zu sprechen hat und dabei auch noch sukzessive auf siebzig Jahre altern muß, trösten über alle Längen und Wirren des Stücks hinweg. Mit Daniel Morgenroth und Christoph Schambach, der die Musik schrieb, den Schöpfern jener legendären Leichenoper, die demnächst am Deutschen Theater wiederaufgeführt wird, setzt sich im Peer Gynt ein Stück tragikomischer Theatralik fort, bei der man unbelehrt mitlieben und -leiden darf. Immerfort flattern neue, schillernde Bühnenbildtücher hinter die Rundbühne, imgaginäre Seelenlandschaften in Wasserfarben. Ob Peer Gynt seiner kleinen Mutter die wildesten Lügengeschichten gleichmütig als Wahrheit verkauft oder ob er selbst seiner Verheiratung im Reich der Trolle im letzten Moment entkommt, macht für das lebensechte Spiel auf der Bühne wenig Unterschied. So sehen die Bauern in Peer Gynts Heimatdorf mit ihren Knollennasen selber wie Trolle aus. Die Dorfmädchen, die nicht mit Peer Gynt tanzen wollen, dumme Gänse mit ausgestopften Blusen, lenken alle Sympathie auf die feine, blasse, leinengekleidete Solvejg und ihre genauso leinengekleidete, feine, pietistische Familie »aus dem Westen«. Claudia Geisler wirkt wie eine transparente Meerjungfer, wenn sie mehrmals im Stück als Ziel aller Wünsche und Sehnsüchte Peer Gynts mit dem Gebetbuch über die Bühne schwebt und dabei auch noch wunderbar unwirklich singt. Da streichen dann die Geigen in süßen Melodien, weltgewisser als die Griegschen schwermütigen Klänge, aber nicht weniger verliebt in die Welt der Trolle, der Lügen und der Opulenz der Bilder.

Im dritten und vierten Akt scheint sich der Theaterapparat zu verselbständigen: Immer mehr Figuren, buntere Kostüme, fernere Länder, Tropenhelme, Riesenkähne, Sekt und Sphinx, sächsischer Sex, Sklaven und gute Werke fährt Solter auf, und Morgenroth alias Gynt redet, schreit, deklamiert sich über alle Höhen und Tiefen hinweg. Vielleicht ist das der Westen für den Osten, ein unübersichtliches Gyntsches Reich, wo man alles gewinnen und alles verlieren kann, auch im Theater. Erst am Schluß kriegt die Geschichte wieder tieferen Seegang, wenn der Knopfgießer den Weltenbummler umschmelzen will, weil er, verwässert wie das ganze Seelendrama, für nichts anderes taugt. Wenn Peer Gynt am Ende, ergraut und müde, in der Mülltonne seinen Standort bestimmt und, noch immer sich selber auf der Spur, eine Zwiebel schält, weiß man wie er nicht mehr so recht, wozu man an diesem Abend aufgebrochen ist. Ob zeitgenössische Allegorie oder nicht, daß das Glück die Meerjungfer und das Gesangbuch bedeutet, habe ich im ersten Akt auch noch gewünscht, nehme ich ihm aber jetzt nicht mehr ab. Hat er sich und uns bei seinem sinnlosen Lebenswerk doch zumindest niemals gelangweilt. Dorothee Hackenberg

Peer Gynt im Deutschen Theater. Regie: Friedo Solter, Bühne: Hans-Jürgen Nikulka, Kostüme: Christine Stromberg, Musik: Christoph Schambach, mit Daniel Morgenroth, Claudia Geisler, Jutta Wachowiak, Otto Mellies u.a.

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