Die endlose Unterrichtsstunde

■ Einmal quer durch das 12. Theatertreffen der Jugend

Eine Woche lang trafen sich jugendliche Theaterspieler, um sich ihre Inszenierungen gegenseitig vorzuspielen, zu kritisieren, zu diskutieren und zu feiern. Seit seiner Gründung 1979 will das vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft jährlich mit 35.000 Mark geförderte Theatertreffen der Jugend, das am vergangenen Samstag im Stadthaus Böcklerpark zu Ende ging, ein »echtes« Treffen mit Workshops und Freizeitangebot sein, ausdrücklich kein Wettbewerb. Eine Rückschau von Dorothee Hackenberg

Im zwölften Jahr seines Bestehens ist das Theatertreffen der Jugend mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, nicht nur das traditionell geringe Angebot an Inszenierungen aus dem Freizeit- und Berufsschulbereich zu berücksichtigen, sondern auch zwei bisher völlig getrennte Jugendtheaterlandschaften in alten und neuen Ländern unter einen Hut zu bringen. Darin sieht Hans Chiout, der dem Festival im dritten Jahr als Leiter vorsteht, sowohl die Chance, voneinander zu lernen wie auch die Gelegenheit, »sich gründlich mißzuverstehen«.

In diesem Jahr hatte die Jury, die sich aus Theaterpädagogen, Kritikern sowie theaterspielenden Jugendlichen zusammensetzt, aus 152 bundesweiten Bewerbungen acht »bemerkenswerte und beispielhafte« Inszenierungen ausgewählt, in denen möglichst »jugendeigene Formen und Inhalte« umgesetzt werden. Neben Teilnehmergruppen aus Siegen, Essen, München und Tübingen waren erstmals auch ein Schultheater aus Frankfurt/Oder und ein Schülerprojekt aus Rostock mit ganz unterschiedlichen Shakespeare-Adaptionen vertreten. Daß aus den neuen Bundesländern nur insgesamt 25 Bewerbungen eingingen, wovon dann zwei nach Berlin eingeladen wurden, führt Chiout darauf zurück, daß das Schultheater in der DDR keine offizielle Förderung erfuhr. Die wenigen Jugendklubs, an denen Theater gespielt wird, sind in ihrer Existenz bedroht und die von Betrieben unterstützte Theaterarbeit ist Relikt einer anderen Zeit. Was hier an Theater entsteht, ist der Eigeninitiative nicht speziell dafür ausgebildeter Pädagogen zu verdanken. Demgegenüber mutet die von westlichen Theaterpädagogen als unzureichend beklagte Schultheatersituation in den alten Bundesländern geradezu paradiesisch an. In Nordrhein-Westfalen und Berlin wird Darstellendes Spiel als reguläres Schulfach angeboten, im Rahmen der Weiterbildung können sich Lehrer zum Theaterpädagogen qualifizieren, wenn es auch bislang keine staatlich anerkannte Grundausbildung gibt.

Themen und literarische Vorlagen waren auch in diesem Jahr vielfältig. Gymnasiasten übersetzten das dreitausend Jahre alte Gilgamesch-Epos in ihre Zeit, Vierzehnjährige wählten ein Märchen, um mit wenigen Requisiten ihren eigenen Alltag auf die Bühne zu bringen. Nicht immer sind sich die Gruppen ihrer Stärken, die gerade in der Reduktion der Mittel oder im Umgang mit Dialekt und Herkunft liegen, so bewußt, daß sie sie unter veränderten Bedingungen ohne Wirkungsverlust variieren können. In einem anderen, größeren Bühnenraum müssen Requisiten vielleicht neu überlegt, längere Gänge einberechnet werden. Wo im heimatlichen Zeichensaal sich eine intime Atmospäre von selbst ergab, muß dem vor einem fremden Publikum unter Umständen mit neuen Bühnenlösungen nachgeholfen werden. Nicht jede Verwandlung erfüllt ihren ursprünglichen Zweck. Da hatte beispielsweise das »Theater in der Senke« aus Frankfurt/Oder Teile seiner Requisiten, darunter eine Pappmachépuppe, aufgrund von Transportschwierigkeiten zu Hause gelassen. Den Part, auf den Ortswechsel mit wechselnder Beschilderung hinzuweisen, übernahm in Berlin plötzlich ein »Nummerngirl«. Beim fünften Auftritt wurde das Girl als Selbstzweck beklatscht und stellte selbst Perikles, die Hauptperson von Shakespeares gleichnamiger Fabel, in den Schatten.

Daß jugendliches Theaterspiel durch sehr persönlichen Zugang an Glaubwürdigkeit gewinnt, bewies die Tübinger Theater-AG der Beruflichen Schulen mit ihrem Stück »Irgendwie Oder«. Vom ursprünglich anvisierten Pennälerbestseller Die Feuerzangenbowle blieb nur die Rahmensituation — eine auf der Bühne brodelnde Feuerzangenbowle mit einem zündelnden Mephisto — und die Grundstimmung schulischer Knechtschaft übrig. Dafür brachte jeder der acht Spieler in musikalischen und szenischen Solis seinen Anteil ein. Ein Mundartfreund gab sich ganz der Mentalität des sprichwörtlich sparsamen Schwaben hin, worauf alle zusammen die Bauspargelüste des schwäbischen Schülers besangen. Eine Spielerin, deren Eltern Griechen sind, vergegenwärtigte mit einer kleinen Szene die tägliche Intoleranz gegen Ausländer und brachte im nächsten Augenblick das Publikum mit einem griechischen Tanz in Schwung. Die Angst vor dem Versagen in der Schule blieb kein abstraktes Thema. In einer sehr mutig vorgetragenen Anfangsszene wird auch der Leistungs- und Gruppendruck beim Theaterspielen reflektiert.

Theater ganz anderer Art bot Die Unterrichtsstunde, eine Inszenierung der Spielschar des Helmholtz- Gymnasiums Essen nach einem Stück von Eugene Ionesco, dem Begründer des absurden Theaters. Ionescos Figuren Professor und Schülerin wurden von den siebzehn Spielerinnen und Spielern mehrfach belegt, um durch wechselnde Spieleranzahl das Machtverhältnis offensichtlich zu machen. Professoren und Schülerinnen unterschieden sich nur durch das Umschlagen eines rosa Lätzchens zum Frackschoß mit rosa Innenfutter, und das ging sekundenschnell. In genau festgelegten Bewegungsabläufen und aufgeteilten, bisweilen chorischen Sprachsegmenten wurde Die Unterrichtsstunde zweieinhalbmal zelebriert, bis ein Techniker gnädig das Saallicht andrehte und die Gruppe vom Endlosdurchlauf erlöste. Bis der letzte Zuschauer gegangen wäre, wollten die Essener weiterspielen, hätten es allerdings mit einem Zuschauerrest zu tun gehabt, der gewillt war, es mit ihnen aufzunehmen und sich bereits für die Nacht mit Kaffee versorgt hatte.

Mit dieser Art von Theater absolut nichts anfangen kann John Schäfer von den »Theatergeistern« aus Rostock, die Shakespeares Was ihr wollt als Musical auf die Bühne brachten. Der Einstieg in solcherlei Inszenierungsformen fiel ihm schwer, er empfand sie als Provokation. Die Theatergeister, die zum Teil seit acht Jahren im alten Rostocker Pionierhaus schulübergreifend zusammenarbeiten, wollen vor allem Spaß am Spielen haben. Ihr Shakespeare ist mit Musikeinlagen von Rap bis Volksmusik und Werbung gewürzt und bot, so einer der Schülerzeitungsredakteure der festivalbegleitenden Zeitung 'Kanal 12‘, endlich die Unterhaltung, die in den vorangegangenen Inszenierungen schmerzlich vermißt wurde. Orsino tritt mit Schmalztopf auf und Viola wird mit »Palmolive« verwechselt. Die von anderen Teilnehmern geäußerte Kritik an den manchmal brachial eingeführten Werbeslogans konterte John Schäfer beim Treffen mit den Worten, für Westdeutsche sei es eben nicht einfach, ostdeutsche Empfindungen zu verstehen, wonach Werbung jedes zwischenmenschliche Gefühl zerstöre. Er selbst nimmt »eine ganze Menge Erfahrung« über westliche Theatervorlieben und Publikumsreaktionen mit. »Was bei uns belächelt oder belacht wird, da wird hier ganz anders hingehört«. Im Westen würde die Ästhetik des Wortes und der Bilder hochgehalten, Bühneneinstellungen müßten »ganz exakt sein«. Theater müsse doch aber auch »ein bißchen befreiend wirken«. Nicht zuletzt wollen die Theatergeister die arbeitslosen Rostocker Jugendlichen ins Theater locken, und das ginge nun mal nicht »mit problembeladenen Stücken«.