ZUHAUSE DOCH FREMD: Hat sich der Kampf gelohnt?
Seit Ende der sechziger Jahre forderten sowjetische Juden ihr Recht auf Auswanderung. Dissidenten landeten – nach demselben Artikel des Strafgesetzbuches wie Spione – hinter Lagerzäunen und Gefängnisgittern. Ob der Kampf sinnvoll war, wird zur Frage danach, wo Sklaverei endet und wo die Freiheit beginnt. ■ VON NATHAN SCHTSCHARANSKY
Die Szene war surrealistisch: auf dem Bildschirm ein New Yorker U-Bahn-Wagen; eine Bande von Rowdies stürmte den Wagen und terrorisierte die Fahrgäste, raubte sie aus, schlug sie, demütigte sie. Die verängstigten Fahrgäste ließen das schweigend über sich ergehen. Dieser Ausschnitt aus einem amerikanischen Film wurde von den Meistern der sowjetischen Propaganda in einem Film „zitiert“, den sie selbst gedreht hatten, und sollte das schreckliche Gesicht des Kapitalismus entlarven. Die Zuschauer waren sowjetische politische Gefangene, die durch diesen Film die böse Welt des Kapitalismus kennenlernen sollten, dessen Agenten sie selbst waren – in den Augen ihrer Wärter. (Das war während einer meiner seltenen „guten“ Zeiten, als ich tatsächlich in einem Lager war – nicht in einem Gefängnis, einem Lagergefängnis oder einer Strafzelle –, wo man das Privileg hatte, einmal wöchentlich einen sowjetischen Propagandafilm zu sehen.)
Rowdies gibt es überall. Und die Angst, die die Menschen angesichts solcher Gewalttätigkeiten lähmt, kennt man auf beiden Seiten des Ozeans. Trotzdem, wenn die Szene in dem U-Bahn- Wagen als Modell für die Gesellschaft gesehen werden soll – worauf die Stimme des Sprechers im Film immer wieder hinwies –, bestand für uns Dissidenten kein Zweifel daran, welches Regime sie wirklich darstellte. Denn als erstes verriegelten die Rowdies die Türen. Der Zug fuhr von einer Station zur anderen, doch die Türen durften nicht geöffnet werden. Für Leute, die nach dem Artikel 64 verurteilt worden waren, der den Versuch zu emigrieren mit Hochverrat, Spionage und Verschwörung gegen die Regierung gleichsetzte, war die Analogie offensichtlich. Das Schließen der Grenzen, das die Emigration verhindert, ist ein wesentliches Merkmal und der erste Schritt eines totalitären Regimes. Allerdings stimmt auch das Gegenteil, wie die Zukunft zeigen sollte. Wenn die Grenzen offen sind, ist es für ein totalitäres Regime sehr schwer zu überleben.
Kooperation zwischen Diktatoren und demokratischen Gesellschaften
Ende der sechziger Jahre schienen die Grenzen des Sowjetreiches vollkommen geschlossen. Und der Westen schien bereit, dieses totalitäre Regime als verläßlichen Partner bei der Entspannung zu akzeptieren. Diese neue Weltordnung wollte die Bedingungen für gegenseitigen Respekt, Kooperation und Wohlstand zwischen Diktatoren und demokratischen Gesellschaften definieren. Aber gerade in dieser Zeit begann auch der Kampf der sowjetischen Juden um ihre Ausreise nach Israel. Das Jackson-Vanik Amendment, das der amerikanische Kongreß gebilligt hatte, war eine deutliche Geste der Solidarität mit den sowjetischen Juden, die für ihr Recht auf Emigration kämpften. Dieses Gesetz knüpfte für die Sowjetunion den Status des bevorzugten Handelspartners daran, daß sie den Juden das Auswandern gestattete. Von offiziellen sowjetischen Stellen wurde dies verärgert als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen. Gleichzeitig gab es kritische Stimmen von der anderen Seite – von den Dissidenten und anderen Kritikern der Sowjetunion im Westen, die sagten: Warum sollte Amerika seine Forderungen auf eine so begrenzte Frage, das Recht auf Emigration, beschränken und ausschließlich auf dieses eine Thema?
Ich erinnere mich allerdings, daß Sacharow geduldig erklärte, von dieser Freiheit wären nicht nur die Juden und andere Ausreisekandidaten betroffen. Die Kontrolle der Regierung über das Recht auf Ausreise bedeutete letzten Endes Kontrolle über jeden Aspekt des täglichen Lebens – durch das furchtbare Wissen, daß es kein Entkommen gab, daß man in ihrer Hand war und sich nach ihren Spielregeln richten mußte. Die Öffnung der Tore war daher auch für diejenigen von größter Bedeutung, die bleiben wollten, sowie für die Sicherheit der Menschen in der freien Welt.
Und so war es tatsächlich. Als die Berliner Mauer und alle Mauern des Reiches einzustürzen begannen, als der Eiserne Vorhang niedergerissen wurde, brachte das allen Menschen im Osten sofort die Freiheit und machte die Welt als Ganzes sicherer. Heute, wo Hunderttausende von Menschen die Sowjetunion verlassen, erhebt sich die Frage, ob sich der Kampf vor zwanzig Jahren gelohnt hat, wo er doch so große Risiken und Leiden für so viele mit sich brachte. Wäre es nicht praktischer gewesen zu warten, wenn man jetzt sieht, wie einfach es geworden ist auszureisen?
Die Emigration ist tatsächlich ein vielschichtiger Vorgang. Sie hat einerseits mit Egoismus zu tun. Man will weggehen und nicht das Schicksal derjenigen teilen, mit denen man jahrelang zusammengelebt hat. Man will das Land verlassen, dessen Kultur immer ein Teil der eigenen Identität bleiben wird. Andererseits begegnet der Emigrant vielen Schwierigkeiten, wenn er an einem neuen Ort ein neues Leben beginnt. Oft lassen sich die schwierigen Bedingungen nur durch den Traum einer besseren Zukunft für die Kinder rechtfertigen. Aber nicht nur das. Die ersten, die zu emigrieren versuchen, sind normalerweise Dissidenten, Menschen, die außerhalb des Systems stehen und sich dagegen auflehnen. Dann kommen Menschen mit Ehrgeiz, die zu dem Versuch bereit sind, sogar an einem fremden Ort erfolgreich zu sein. Danach kommen die Massen, die oft aus Panik handeln. Heute dagegen betrachten die Hunderttausende von Juden, die jetzt nach Israel oder Amerika kommen, diejenigen, die vor zwanzig Jahren gekommen sind, die schon ihren Platz in der neuen Gesellschaft gefunden haben, als besonders praktisch veranlagte Menschen. Dieselben Leute galten vor zwanzig Jahren als Versager und Störenfriede.
Ich wurde nicht erst frei, als ich in Berlin über die Grenze kam
Ob es sich gelohnt hat, die Gefängnisse, die Lager auf sich zu nehmen, um frei zu werden? Hat sich nicht später herausgestellt, daß so viele es ohne diese Kosten erreichen konnten? Die Frage, ob es sich gelohnt hat, habe ich öfter als jede andere gehört. Aber das ist keine Frage, die man nur im Rahmen der Emigration beantworten kann. Dazu gehört ein umfassenderer Kontext: die eher philosophische Frage danach, wo die Sklaverei endet und die Freiheit beginnt. Ich wurde nicht frei, als ich in Berlin über die Grenze kam, sondern in dem Augenblick, als ich erklärte, daß ich ausreisen wollte und dafür demonstriert habe: weil sie mich in diesem Augenblick nicht mehr unter Kontrolle hatten.
Das Regime war in seinen Versuchen, den Menschen nicht nur innerhalb der Landesgrenzen, sondern unter seiner vollständigen Kontrolle einzuschließen, sehr konsequent. Wenn man die Landesgrenzen nicht anerkennen wollte, dann wurde man nicht nur durch den Zaun des Landes, sondern durch den Lagerzaun, durch Gefängnisgitter, durch Zellenwände und schließlich die Wände der Strafzelle eingesperrt. Dort, in der Strafzelle, gibt es weder eine Emigration des Körpers noch eine Emigration von Licht, Sprechen, Geräusch oder Essen. Aber wenn man erst einmal in der Strafzelle ist, fühlt man sich vollkommen frei. Dort wird man Teil jener freien Welt, mit der man physisch erst später zusammenkommt. Für diejenigen, die die wirkliche Freiheit sogar in der Dunkelheit der Strafzelle erlebt haben, hat die Frage, ob es sich gelohnt hat, keinen Sinn.
Nathan (Anatoli) Schtscharansky ist geborener Ukrainer. Als Anführer der jüdischen Dissidenten wurde er 1978 verhaftet. An der Berliner Glienicker Brücke wurde er 1986 gegen fünf Ostblockagenten ausgetauscht und konnte nach Israel auswandern.
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