FLIEHEN – ABER WOHIN?: Zu jung zum Fliehen
Jedes Jahr suchen Hunderte von unbegleiteten Minderjährigen Schutz in Österreich. Sie dürfen noch keinen eigenen Asylantrag stellen und können formlos wieder abgeschoben werden. ■ VON BERNHARD HEILLER UND WOLFGANG WEISGRAM
Said ist Österreicher. Seit drei Jahren schon. Erst kam das wichtige Dokument, das ihn aus dem Teufelskreis von Aufenthaltsbewilligung, Beschäftigungsbewilligung, Aufenthaltsbewilligung, Beschäftigungsbewilligung befreit hatte: der Staatsbürgerschaftsnachweis. Dann, kurz darauf, die Einberufung zum österreichischen Bundesheer, denn wer ein neues Vaterland will, muß es auch verteidigen. Said spricht reines Hochdeutsch mit einer nur vage an Wien erinnernden Färbung. Die Haare kohlrabenschwarz, die Haut dunkel – so halten ihn alle für einen Italiener. Er widerspricht nicht, immerhin bedient er in einer Pizzeria, und dort sind Italiener gerngesehene Beschäftigte. Said ist Perser. Beziehungsweise, er war es. Und jetzt ist er Österreicher. Beziehungsweise beides.
Er war noch keine sechzehn, als er nach Wien kam. Sieben Jahre ist das jetzt her. Die ganze Zeit des Heranwachsens, des Pubertierens, des Illusionen-Verlierens verbrachte er in der österreichischen Hauptstadt. Nicht selten passiert es, daß ihm die emotionalen Bezugspunkte durcheinandergeraten. Also hat er sich eine autosuggestive Strategie zurechtgelegt. „Ich bin beides. Perser und Österreicher.“ Said hat Glück gehabt: Seit er hier als halbes Kind ankam, hat sich seine neue Heimat grundlegend gewandelt.
Das Land, das so stolz gewesen war auf seinen – sagen wir: nicht unliberalen – Umgang mit Flüchtlingen, mutierte zusehends zu einem Hort immer rabiater werdender Xenophoben. Vielleicht begann das mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen, das Zigtausende nach Österreich trieb. Vielleicht mit der Liberalisierung in Ungarn, die den Eisernen Vorhang immer löchriger machte. Vielleicht erst mit der unseligen Bundespräsidentenwahl. Oder vielleicht war das immer schon so, und Said hat es im Überschwang, dem Gemetzel am Schatt-el-Arab entkommen zu sein, nur nicht bemerkt. Nur zuweilen, wenn der Eindruck der Herzigkeit selbst die Medien überwältigt, vergißt Österreich seine offene Hand und erinnert sich seiner offenen Arme. Im Februar 1990 zum Beispiel – ganz Europa blickte immer noch erstaunt und ein bißchen erschrocken nach Rumänien – vernahm ganz Österreich die rührende Geschichte des zwölfjährigen „Gigi Roco“, den die blutigen Kämpfe – jeder stand noch im Bann jenes Babys von Temesvar, das die Fernsehkameras in der grausigen Reihe der exhumierten Leichen ausmachten – über Ungarn und über die österreichische Grenze gespült hatten. Ein paar Tage später stellte sich heraus, daß der Knabe Paul Logovetescu hieß, aus Arad stammte und in Wirklichkeit so etwas war, das im Westen „Ausreißer“ heißt. Die Geschichte, daß seine Mutter in den Revolutionswirren umgekommen sei, stimmte nicht. Kein Österreicher hat aber je die Abschiebung des herzigen Buben verlangt.
Weniger geniale Kinder und Jugendliche haben es da bei weitem schwerer, wenn sie nach Österreich fliehen wollen. Kinder erschüttern zwar selbst das Gemüt des Xenophoben, aber Kind ist nicht gleich Kind. Und wenn der erste Flaum die Wangen des Asylbewerbers bedeckt, und die Brust der Asylbewerberin zu wachsen angefangen hat, könne man doch nicht mehr von Kind sprechen. Solche Minderjährige – rechtsunfähig und weit davon entfernt, einen eigenen Asylantrag stellen zu können – dürfen dann auch recht formlos abgeschoben werden. So wie jene 17jährige Rumänin, die unlängst erst in der Abschiebehaft vergewaltigt worden ist. In Österreich hat man darüber lesen können, aber nicht im Zusammenhang, sondern als klarer Ausnahmefall.
Manfred Matzka, zuständiger Referent für Flüchtlingsfragen im Wiener Innenministerium gab sich da recht zuversichtlich. „Das Problem von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen gibt's in Österreich nicht.“ Beziehungsweise: „Praktisch nicht“. Theoretisch schon, aber das ist ein Streit zwischen den Rechtsgelehrten, wie verfassungskonform mit solch hypothetischen Fällen umzugehen sei: Gelte das Erreichen der Volljährigkeit im jeweiligen Herkunftsland? Gelte der Gleichheitsgrundsatz, wonach in- und ausländische Kinder möglichst auch gleich zu behandeln wären? Wer kann das schon wissen? Aber praktisch – also statistisch – gebe es sowieso keinen Handlungsbedarf, wie es neuösterreichisch heißt. In der Wiener UNO-City, beim Flüchtlingshochkommissar, sieht die Sache ein wenig anders aus. Dort nämlich führt man die Statistik auch mit dem Merkmal „Geburtsdatum“ und kann so den obersten österreichischen Flüchtlingsbetreuer korrigieren: „Im letzten Jahr sind genau 888 unbegleitete Minderjährige aus 24 Nationen nach Österreich gekommen. 77 Prozent waren unter 18 Jahren. Das sind jene, die wir namentlich erfaßt haben, aber wir sind sicher: Es gibt eine große Dunkelziffer.“ Die sich auch – nicht nur, aber auch – aus der geänderten Haltung Österreichs ergibt. Die meisten, wird stolz immer wieder verkündet, werden an der armeebewehrten grünen Grenze abgefangen und nicht abgeschoben, sondern gar nicht erst hereingelassen.
Jene, die es trotz allem schaffen, kommen in zwei rechtliche Kategorien. In jene, die gültige Papiere haben und deshalb in die sogenannte Bundesbetreuung übernommen werden, die für Unterkunft, Verpflegung, Weiterwanderung oder im Ablehnungsfall für die ordnungsgemäße Abschiebung sorgt. Und in jene ohne Papiere, die man auf der Stelle abschiebt. Ob Kind, ob Jugendlicher, ob Erwachsener – egal. Die Fragen, ob Jugendliche überhaupt in Abschiebehaft genommen werden dürfen, ob und zu welchem Zeitpunkt man für sie einen Vormund bestellen müßte oder nicht, läßt man im Innenministerium lieber unbeantwortet. Beziehungsweise im dunkeln.
Said hatte, als er nach Österreich kam, einen schlechten Asylgrund. Angst vor Kriegsdienst steht nirgends in der Genfer Konvention, die Angst der Mutter schon gar nicht. Sie war es, die drängte. Said hatte Reisepaß und Österreich-Visum, da kam Khomeinis Order, das generelle Ausreiseverbot von 16 auf 14 Jahre zu senken. Auf dem Teheraner Flughafen keine Chance, also nach Nordwesten, nach Kurdistan zu den Schleppern. In den Bergen kam die Nachricht: Ein Schub darf noch hinaus. Mütter hätten diese Revision erzwungen. Auch Saids Mutter demonstrierte in der Abflughalle. Erfolgreich: Der kleine Said trat die große Reise an. Mutterseelenallein. Am Wiener Flughafen gab es damals, vor sieben Jahren, nur Zöllner. Die Polizei beschränkte sich auf die Abwehr von Terroranschlägen, Said kam anstandslos durch die Sperre. Man sah damals nur auf den Visumsstempel, nicht ins Gesicht, wo Angst und Elend geschrieben stehen. Wer die Sperre passiert hat, darf dann auch sagen: Ich bitte um Asyl. Wer das nicht schafft – und zuletzt tun das immer mehr – darf sich bloß im Transitraum vom privaten Flughafen-Sozialdienst betreuen lassen. Solange, bis ihn die Polizei in die Maschine zurückzerrt.
Der Weg, dessen Rand auch Said gut kennt, beginnt damit freilich erst. Dem ablehnenden Asylbescheid folgte ein ganz kurzes Gastspiel bei einer weitsichtigen Tante, die ihn vor der Abschiebung bewahrte. Aber die, die er als westlich Orientierte in kindlich bewundernder Erinnerung hatte, empfing ihn im Tschador und nahm ihn wenigstens einmal die Woche mit in die Botschaft, wo vor dem verhaßten Mullahbild gebetet werden mußte. Said zog aus, der Tante war's nicht unrecht, nur vor dem Meldeamt wohnte er weiterhin bei ihr. Mit dem Schulbesuch war es bald aus. Nicht nur die deutsche Sprache war ihm eine Hürde. Heute sagt er: „Ich bin in schlechte Gesellschaft gekommen, falsche Freunde.“ Damals hieß es einfach: „Gehn wir in den Prater.“ Spielautomaten verursachen Schulden, Schulden Zwänge, Zwänge Aussichtslosigkeiten, Aussichtslosigkeiten Depressionen. Und zu dem allem kam das, was akademisch Kulturschock heißt. „Ich kam ja aus einer Kultur, wo alles nur in und mit der Familie passiert. Und dann war ich mit sechzehn völlig alleine, hab mich überhaupt nicht zurechtgefunden.“ Und niemand war da, der ihm dabei hätte helfen können. Oder wollen. Oder beides. Said hatte, als er nach Österreich kam, einen schlechten Asylgrund.
Bernhard Heiller und Wolfgang Weisgram
Bernhard Heiller studierte Kunstgeschichte und Publizistik und arbeitet derzeit als Koordinator beim österreichischen „Standard“. Sein Kollege Wolfgang Weisgram, der mehrere Jahre empirische Sozialforschung betrieb, leitet neben seiner Tätigkeit beim „Standard“ eine PR-Agentur.
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