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Blindheit & Blödigkeit

Zwei germanistische Grabungen  ■ Von Ulrich Johannes Schneider

Länger schon bezeichnete Literatur nicht mehr das ästhetische Reich hehrer Texte, sondern eher funktional das Geschriebene, wo auch immer es zu finden ist. Germanisten waren und sind an dieser neuen Auffassung nicht unschuldig — mit der Inflation des Literaturbegriffs haben sie sich gleichsam selber enthemmt. Aus dem unablässigen Strom der literaturwissenschaftlichen Produktion aber fischen wir mutig nach dem einen oder anderen lesenswerten Werk. Hier sind zwei davon.

Das Adjektiv „blöd“ wird heute noch verwendet, als milde Form der Beleidigung oder zum Ausdruck unserer Enttäuschung — „Blödigkeit“ dagegen kennen wir nicht mehr. Georg Stanitzek hat die Literatur des 18.Jahrhunderts umgegraben und den Begriff nicht nur wiederentdeckt, sondern ein wunderbar einfühlsames und kluges Buch darüber geschrieben. Aus zahlreichen bekannten und noch viel zahlreicheren unbekannten Texten setzt er die Gesprächsfetzen einer vergangenen Diskussion zusammen — einer Diskussion um die Unfähigkeit zur Konversation. Denn „blöde“ im Sinne von „Blödigkeit“ wurde derjenige genannt, der, verzagt und schüchtern, am gesellschaftlichen Leben nicht teilnahm, der sich der Unterhaltung verschloß.

Ein Kapitel aus dem bürgerlichen Problemdenken vor der Französischen Revolution also, ein Seitenstück zum vielerörterten Thema „Einsamkeit und Gesellschaft“ (das etwa der Breslauer Philosoph Christian Garve zum Buchtitel erkor). Stanitzek hat vom Soziologen Luhmann gelernt, bleibt aber theoretischem Übermut abhold. Wenn er feststellt, daß „die ständische Differenz in der Konversation sich objektiviert“, dann bringt er schöne und überzeugende Beispiele dafür, wie „in der sozialen Hierarchie von unten nach oben eher geschwiegen, von oben nach unten eher gesprochen wird“. Der germanistische Grabungseifer macht auch vor der Philosophie nicht halt, wenn er die aufklärerischen Klugheitsregeln analysiert, und schon gar nicht vor der Psychologie, wenn er „Blödigkeit als Korrosion des Charakters“ untersucht.

Eine in der Verwendung und zeitgenössischen Definition des Wortes „Blödigkeit“ durchgehende Zweideutigkeit hebt Stanitzek besonders heraus: Für die moderne Vernunft ist der blöde Mensch ein beschränktes Wesen (Luther hat es schon so gesehen) und durch Unfähigkeit, Hemmung und Versagen charakterisiert. Genau aus dieser Not macht das bürgerliche Denken im Kampf gegen Konvention und Standesmoral eine Tugend. Ein Modelldialog August Meißners: „Sprich, damit ich dich kennen lerne, rief ein alter Weiser einem jungen Fremdling zu. — Ich dächte, auch mein Schweigen spräche.“ Welche Revolution: Die tiefe Seele gibt sich als Verweigerung der Rede. Das philosophische Programm Rousseaus schließt daran an und weiter eine ganze Generation empfindsam-stolzer Schlauberger, die sich in „Beschreibungen des Individuums“ im 18.Jahrhundert (selbst) versuchen. Mit Abschnitten über Das Portrait des Dichters als blödes Genie und Blödigkeit und Bürgertum steigert Stanitzek seine Studie am Ende in eine Interpretation Hölderlins, der eine Ode mit Blödigkeit überschrieben hat. Was so — gut germanistisch — endet, ist ein höchst interessanter Grabungsbericht, dessen Fundstücke uns manchmal gar nicht alt vorkommen wollen — wie diese Definition von Herrn Ewald Anno 1784: „Der Blöde ist im Grunde mißtrauisch gegen seine eigenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Betragen, und fürchtet sich vor Ungeschicklichkeiten, ungünstigen Beurteilungen und dergleichen.“

Herr Utz ist ein schon heimgekehrter Archäologe, er zeigt uns die Trophäen, will sagen: Er führt uns durch seine Bibliothek. Mit großer Begeisterung hält er uns ein ums andere Mal ein neues Buch unter die Nase, damit wir lesen, was er entdeckt hat: die Obsession der Schriftsteller für Auge und Ohr. Überall wird mit den Sinnen ein dramatisches Spiel getrieben, Romanhelden stürzen in Verwirrung, Träume geraten zu Bildern, und Gefühle werden als Augen- und Ohrenerlebnisse instrumentiert. Überall: das ist für Herrn Utz die deutsche Literatur des späten 18. und frühen 19.Jahrhunderts, von Lessing über Goethe bis zu E.T.A. Hoffmann. Im schnellen Gang durch die Werke der Meisterdichter zeigt uns der Finger des Germanisten, wie das Auge seinen Rang als wichtigster Sinn verliert und die Symphonie des Riechens, Schmeckens, Hörens, Tastens und Sehens angestimmt wird. Nur einmal werden wir zu längerem Verweilen eingeladen: In der Betrachtung von Goethes Gedicht Willkommen und Abschied darf der Leser die Verse ganz und in Ruhe genießen und kann nachvollziehen, daß sich „sinnliche Ganzheit, sprachlich gestaltet, nur als Prozeß denken läßt“.

Ansonsten, wir müssen's beklagen, zieht uns Herr Utz in großer Hast durch die Regale und zerrt die Zitate wie Beutestücke aus den Texten. Das Buch hat die Druckerei um viele Anführungszeichen ärmer gemacht. Bilder hat es übrigens auch, die vor allem die Augenverherrlichung der Aufklärung illustrieren. Die Befreiung von Blindheit war dem 18.Jahrhundert in vielerlei Hinsicht ein Anliegen, nicht zuletzt im medizinischen Bereich: Das Star-Stechen wurde als praktisch erfolgreiche Operation auch symbolisch gefeiert. „Die Heilung des Blinden wird zur Urszene der Aufklärung.“ Literatur aber geht darüber hinaus: Bei Lessing und bei Schiller wird Wahrnehmung zu einem mehr als augenfälligen Phänomen, und bei Goethe dann ist sie „Gegen-Sprache“. Die totale sinnliche Erfahrung, die Synästhesie, fordert vom Dichter die Versinnlichung des Schreibens selbst.

Indem er den reichen Schatz seiner Grabungen dem Leser vor Augen führt, verwirrt Herr Utz aber auch, und man fragt sich, ob es denn zuletzt nur um einen neuen Beweis für den Unterschied von Aufklärung und Romantik geht. Durch den handwerklichen Zugriff auf die Texte wird es uns schwergemacht, mit dem Wissen um die Bedeutung der Sinnenerfahrung in der Literatur auch eine genaue Ahnung davon zu verbinden, was eine versinnlichte Erzählweise sei. Wir möchten uns einen Meister Floh wünschen, wie ihn E.T.A. Hoffmann erfunden hat, der, dem Auge unerkennbar, mit feiner, erotischer Stimme uns die Welt ins Ohr fabuliert. Aber vielleicht müßten wir noch einmal an das Regal zurückgehen und im Zusammenhang begreifen, worauf Herr Utz uns im einzelnen hingewiesen hat.

Georg Stanitzek: Blödigkeit · Beschreibungen des Individuums im 18.Jahrhundert. Niemeyer Verlag, Tübingen, 322 S., geb., 98DM

Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text · Literarische Sinnenwahrnehmung in der Goethezeit . Wilhelm Fink Verlag München, 336 S., geb., 78DM

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