: WALLFAHRT ZUM GENIUS
■ Ein englisches Ehepaar auf Mozarts Spuren. Ein Beitrag zum Jubel-Jahr
Ein englisches Ehepaar auf Mozarts Spuren. Ein Beitrag zum Jubel-Jahr
VON HERMANN SCHLÖSSER
1829 überquerten der Londoner Musikverleger Vincent Novello und seine Gattin Mary den Ärmelkanal. In Boulogne bestiegen sie eine Kutsche, die sie über Antwerpen, Aachen und Köln bis an den Rhein brachte, dessen wild-romantische Loreley-Atmosphäre man in England gerade schätzen gelernt hatte. Per Schiff bewegte sich das Ehepaar rheinabwärts. In Mannheim nahm man vom Rheine Abschied und machte sich via Stuttgart auf nach München. Wie viele Reisende dieser Zeit trugen auch die beiden Engländer auf ihrer Fahrt Merkwürdiges, Schönes und Ärgerliches in ein Tagebuch ein, das später den Daheimgebliebenen vorgelesen wurde.
Wirklich interessant wird die Reise allerdings erst hinter München. Die Landschaft erscheint den Reisenden stündlich wunderbarer, die Bevölkerung malerischer. Die Tagebuchaufzeichnungen kündigen Großes an. Schließlich nähert man sich einem heiligen Ort. Vincents Tagebuch erzählt, wie man ihn erreichte: „Nach einer der schönsten Fahrten, die ich je genossen, an einem der schönsten Tage, die ich je erlebt, in heller Mondnacht kamen wir am Ziel unserer Wallfahrt an — Salzburg, Mozarts Geburtsort.“
Mozart war 1829 schon lange tot, noch aber lebten seine Witwe Konstanze, sein Sohn und schließlich auch Marianne von Sonnenburg, die einstmals als allseits bekanntes „Nannerl“ mit ihrem berühmten Bruder vierhändig Klavier spielte. Jetzt war sie 78 Jahre alt, bettlägerig und finanziell schlecht versorgt. Das hatte sich bis nach London herumgesprochen, und der rührige Novello hatte eine Sammlung zu ihren Gunsten veranstaltet, die 63 Pfund Sterling einbrachte. Diese Summe der Schwerkranken zu überbringen, war der Anlaß dieser Reise.
Gut gemeint, gewiß, und doch wohl nur ein Vorwand. Der wahre Grund dürfte nämlich die Hoffnung gewesen sein, durch dieses Geldopfer dem Genius Mozarts nahezukommen. Als „Wallfahrt“ haben die Novellos selbst ihre Reise bezeichnet. Aber Mozart war, wie man weiß, kein Heiliger, sondern ein Künstler. Der Verehrungslust der Novellos tut das keinen Abbruch. Wenn man ihre Tagebuchaufzeichnungen liest, möchte man in ihnen allerdings doch nicht die altmodischen religiösen Pilger erkennen, sondern deren moderne Nachfahren: Touristen. Ihre Ernennung des Musikers zum Heiligen gleicht auch einem „interessanten“ Urlaubserlebnis, und die Reliquien, die sie sammeln, kann man vom Souvenir nicht ganz rein unterscheiden.
Als adäquate Priesterin im Tempel der Sehenswürdigkeiten entpuppt sich Konstanze, an deren „immer noch schönen Augen“ Mary Novello sofort die wahre Geliebte des Meisters erkennt. Wie Sarastro die Einweihung Taminos, organisiert die Witwe die Annäherung der Besucher an den Mozart-Nachlaß. Die Partituren und Autobiographen liest Novello zwar noch mit den Augen des Verlegers, also nicht ganz ohne geschäftliche Interessen. Aber auf den Klaviertasten, die von Mozarts Fingern berührt worden sind, ruhen die Hände der Reisenden schon in aller Ergriffenheit. Und das Tintenfaß, „mit Tintenflecken vom Requiem her“, wie Konstanze versichert, verehren sie vollends als Reliquie.
Als schließlich die Witwe gar so „gütig“ ist, das wenige, was sie von Mozarts Haar noch besitzt, mit ihnen zu teilen, kennt die Begeisterung der Reisenden keine Grenzen mehr: „Verzückt“ betrachten sie alles, was mit Mozart irgendwie in Verbindung stand, und sie zweifeln keinen Moment an der lauteren Wahrheit eines jeden Details, das Konstanze ihnen erzählt.
Freilich ist die Wallfahrt in Salzburg noch nicht zu Ende. Als weitere Station des Weges wird Wien absolviert. Auch dort gibt es viel Beglückendes, aber doch auch einige Widrigkeiten, die überwunden werden müssen wie eine Anfechtung: Andreas Streicher, Pianoforte-Fabrikant in der Ungarngasse, Freund Schillers und Beethovens, hat keine günstige Meinung von Mozarts Witwe und bezweifelt ihre Glaubwürdigkeit. Da hören aber die beiden Reisenden weg wie bei Einflüsterungen des Bösen. Sie haben schließlich ihre weite Reise nicht unternommen, um sich Trübungen ihrer Eindrücke gefallenzulassen. Der Pianoforte- Fabrikant erscheint in ihren Tagebüchern als nicht ganz angenehme Figur.
Schwieriger als diese kleine Dissonanz ist aber der große Mißklang zu bewältigen, den die Stadt Wien selber bietet. Mary, aber vor allem Vincent, hatten geglaubt, im Lande Mozarts müsse man an allen Ecken und Enden die unsterbliche Musik von Mozart und Haydn hören können. Selbst mit Beethoven, von dessen unlängst verblichenem Haupt auch eine Haarlocke für die beiden Reliquiensammler abgefallen war, wären sie noch einigermaßen zufrieden gewesen. Aber wie viele, die mit großer Erwartung irgendwo hinfahren, mußte auch Novello, der biedermeierliche Kunstpilger, feststellen, daß in Wahrheit alles ganz anders ist: „...nichts als Walzer, ewige gewöhnliche Walzer“, schrieb er frustriert in sein Journal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen