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„Überhaupt keine Vision“

■ Die grüne Sozialpolitikerin Karoline Linnert über ihre Zweifel an den Koalitionsverhandlungen

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Paßfoto von der

Frau mit Kette

Die Sozialpolitikerin Karoline Linnert ist Mitglied der grünen Koalitions-Verhandlungskommission. Auf der Mitgliederversammlung ihrer Partei am Donnerstag abend begründete sie, warum sie gegen die Fortsetzung der Verhandlungen ist. Nach der großen Mehrheit für die Fortsetzung der Ampel-Verhandlungen kündigte sie an, auch weiterhin Mitglied der Verhandlungskommission zu bleiben. Wir dokumentieren ihre Rede vor der grünen Mitgliederversammlung.

Obwohl man das ja eigentlich nicht darf als Politiker, wollte ich sagen, daß ich irgendwie ratlos bin. Ich denke, Projekte wie eine Regierungsbeteiligung brauchen unheimlich viel Kraft, Wind und auch so etwas wie Überzeugung. Aber die sehe ich überhaupt nicht — weder bei mir noch bei irgendjemand anderem aus den Grünen. Ich sehe nur Leute mit wahnsinnig vielen Zweifeln, auch einer ganzen Menge Angst, Bedenken, ewigem Hin- und Hergerissenwerden zwischen dieser unheimlichen kulturellen Diskrepanz, der wir da ausgeliefert sind, und dem, was wir an Umgang miteinander jedenfalls schon ein Stückweit entwickelt hatten.

Dieses Hin und Her verhindert bei mir, mit klarem Kopf noch einmal genau zu überlegen, was für die Grünen und für Bremen am Besten wäre. Das hängt natürlich auch mit diesem Verhandlungs-Marathon zusammen; da wird man auch irgendwie zu Tode gesessen.

Ich nehme Durchhalteappelle wahr, auch von Lobbyisten; ich nehme viele Hoffnungen wahr bei der Verwaltung und bei dem linken Flügel der SPD; ich nehme wahr, daß ich überhaupt nicht weiß, wie man die Zerreißprobe — egal, was wir heute entscheiden — in der Partei verhindern soll. Das macht mir mit am meisten Sorgen. Und wir haben trotz all der Mühe, die da reingesteckt wurde, überhaupt keine Vision von einem reizvollen Projekt.

Es ist wahr, daß die FDP sich weniger scheußlich gebärdet, als hier befürchtet wurde. Es ist auch wahr, daß das Leute sind, mit denen man verhandeln kann. Da hat das Kaufmännische auch Vorteile nach dem Motto: Das geben wir, das kriegen wir. Damit kann ich klarkommen. Aber wir haben auch noch mit ganz viel Bunker zu tun. Und da gibt es wenig Aussicht auf etwas, was mir Spaß macht. Und daß ein Stück Spaß beim Regieren dabei sein muß und eben nicht nur sowas wie Machtgeilheit, davon bin ich überzeugt — Spaß am Gestalten. Doch wo genau die Spielräume sind, ist überhaupt nicht klar.

Ich denke, heute abend fällt die Entscheidung für oder gegen Ampel. Denn die Möglichkeiten auszusteigen, sind aller Erfahrung nach nicht die einfachsten. Und die Erfahrung mit diesen Verhandlungen ist, daß wir uns ein stückweit überschätzen, wieviele Möglichkeiten wir haben, diesen Prozeß zu gestalten. Wir sitzen da mit zehn Leuten gegen 16 andere, das ist ein Problem.

Ich finde zum Beispiel die Forderung nach Fachgruppen nach wie vor richtig, aber das Problem ist, daß Wedemeier einfach Angst davor hat. Das ist ein offenes Geheimnis. Natürlich ist die Angst von Herrn Wedemeier kein Argument gegen Fachgruppen, man muß sie aber zur Kenntnis nehmen. Da gibt es eine unheimliche Angst, daß in den Fachgruppen Sachen ausgeklüngelt werden, und hinterher kann Wedemeier nicht mehr den Deckel auf dem Topf halten.

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