piwik no script img

Vor stürmischen Gewässern

■ ...gibt es keine Rettung durch Trennung der Passagierklassen

Flucht und Asyl ist so alt wie die Geschichte der Menscheit. Abraham, zugleich Stammesvater der Juden, Christen und der Moslems, mußte bei den Ägyptern um Asyl bitten. Ähnlich suchte sein Sohn Isaac bei den Phylistern Asyl. Als Grund ihrer Flucht steht im alten Testament (1. Buch Mose, Kap. 12 bzw. 26): „Es kam aber eine Theuerung in das Lande. Da zog Abram hinab gen Ägypten, da er sich daselbst als Fremdling aufhielte; denn die Theuerung war groß im Lande“. Eine eindeutige Sache: Beide waren in der Sprache von konservativen Politikern „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder in der Sprache der Verantwortungslosen, „Scheinasylanten“.

Bedenkt man die Strapazen der Flucht von Abraham und seiner Sippe über mehrere Tausend Kilometer von Mesopotamien über Kleinasien nach Ägypten, dann kann man sich die Not, in der die Flüchtlinge waren, etwa vorstellen. Heute nach tausenden von Jahren ist die Situation nicht anders. Nur das Ausmaß ist ein anderes: Waren es damals einige hundert Familien bzw. Stämme, befinden sich heute nach den Zahlen der UN-Flüchtlingskommission 15 Millionen Menschen auf der Flucht.

Die Gründe für diese weltweite Asylsuche haben sich im wesentlichen nicht geändert. Täglich wird über Naturkatastrophen berichtet. Flut in Bangladesh, Dürre in der Sahelzone oder Äthiopien mit bekannten Folgen: Hunger und Tod. Politische Unruhen beherrschen von West bis Ost das Weltbild. In fast jeder Region der Erde kann man auf Bürgerkriege, ethnische bzw. religiöse Verfolgungen stoßen, die die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat und damit ihre Lebensgrundlage aufzugeben.

Fast alle diese Gebiete waren bis Mitte dieses Jahrhunderts entweder ehemalige europäische Kolonien oder standen unter dem Mandat eines europäischen Landes. Vor der Kolonialisierung herrschte in diesen Regionen weitgehend Einklang zwischen der Natur und den Einheimischen. Mit dem „weißen Mann“ änderte sich alles schlagartig. Der weiße Mann war nicht nur an Sklaven interessiert. Er brauchte auch Rohstoffe zum Aufbau der eigenen Industrie und zerstörte in einem unverantwortlichen Raubbau die Natur. Es geht hier aber nicht nur um Kaffee oder Bananen, sondern auch um Industrierohstoffe, z.B. Öl.

Die Bedingungen dieses Handels haben sich jetzt so verschlechtert, daß diese Länder mit ihren Ausfuhren noch nicht einmal ihre Schuldzinsen begleichen können. Auch in Sachen der Klimaverschlechterung und des Ozonloches sind die Industrieländer Weltmeister. Um in der Sprache der Chaosforschung zu sprechen: Jeder Autofahrer sollte beim Gasgeben an die Hungernden in Afrika denken.

Es geht mir hier nicht darum, ein schlechtes Gewissen zu erwecken. Ich will nur auf die Mitverantwortung an der Flüchtlingsbewegung unserer Zeit hinweisen. Wir sitzen alle in einem Boot. Das Boot steuert derzeit auf stürmische Gewässer. Die Gefahr ist sicherlich nicht dadurch zu lösen, daß man die Aufgänge zwischen den Passagierklassen sperrt. Die Gruppen, die noch nicht einmal in der eigenen Gesellschaft bereit waren zu teilen, sollten endlich begreifen, daß es dafür höchste Zeit ist.

In Europa und Deutschland werden derzeit die Massen mit falschen Zahlen auf dieses Problem fixiert. Es wird berichtet, daß ein Asylbewerber in Deutschland viermal gezählt wird, damit seine Familie mitberücksichtigt wird. Die Wahrheit sieht anders aus: Von 15 Millionen Flüchtlingen auf der Welt konnten 1989 lediglich 287.000 den Weg nach Europa finden. Und von ihnen klopften nur 121.000 in der Bundesrepublik an. Dies macht noch keinen Prozent der Bevölkerung aus. Dagegen besteht 13,6 % der Bevölkerung von Somalia aus Flüchtlingen.

Alle europäischen Länder hätten jetzt die große Chance und Pflicht, ihre Rüstungsausgaben in soziale Leistungen umzuwandeln und eine neue Basis für ihre eigene Wirtschaft zu finden, in der soziale Versorgung, Bildung und Schutz der Umwelt Vorrang vor allen anderen staatlichen Aufgaben haben. Die Interessen und Gesetze einer Wirtschaft dürfen keine heiligen Kühe bleiben, wenn die Mehrheit der Gesellschaft nichts davon hat. Nur in der Sicherheit wird sich der Bürger von rassistischer Propaganda nicht verführen lassen.

Auf kommunaler Ebene können die Spannungen zwischen den Asylsuchenden und der Bevölkerung dadurch gemindert werden, daß genügend Mittel für die soziale Not der Bevölkerung und für den Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig müssen die Asylbewerber auf ihre Umgebung richtig vorbereitet werden.

Und noch einen wichtiger Punkt: Bei richtiger Anwendung der Gesetze sind Ausländer körperlich gegen die Übergriffe rassistischer Gruppen geschützt. Es gibt aber kein Gesetz außer den pauschalen Bestimmungen des Grundgesetzes, das ihre Würde im öffentlichen Raum schützt. Die Wahlpropaganda der rassistischen Gruppen hat uns gezeigt, wie wenig man gegen die Plakate mit rassistischem Inhalt vorgehen kann. Ein neues Anti-Diskriminierungsgesetz muß endlich diesen Rassisten das Handwerk legen und sie daran hindern, unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit den Haß zu schüren. Tuncer Miski

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen