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Mit den Nerven zu Fuß

Tilman Spenglers Untersuchung von Lenins Hirn  ■ Von Gerd Busse

Der Titel des Romans ist bereits sein Programm: Lenins Hirn. Es dreht sich alles ums Gehirn, genau gesagt, ums „Elitegehirn“. Ein Berliner Neurologe namens Oskar Vogt hat es sich zum Ziel gesetzt, das Geniale in den Windungen des menschlichen Hirns aufzustöbern. Da nun aber das Mittelmaß nur Ausgangs-, nie aber Endpunkt einer Forschung nach der höchsten Leistungsfähigkeit eines Menschen sein kann — „wir müssen den Affen vom Menschen her begreifen und nicht den Menschen vom Affen“ —, beschreitet er den „Königsweg der Erkenntnis“, die Zerlegung von Gehirnen toter Genies.

Dies ist natürlich eine äußerst kostspielige Angelegenheit angesichts der grauen Mangelware. Doch da kommt der Zufall zur Hilfe. Über die Behandlung der mit ihren Nerven zu Fuß gehenden Gemahlin eines Rüstungsindustriellen gelingt es Oskar Vogt, in die Oberschicht der wilhelminischen Gesellschaft einzudringen und dort für seine Ideen zu werben — vor allem aber Geld zu schnorren. Um seine Pläne verwirklichen zu können, wird ihm natürlich ein Preis abverlangt — die Anfertigung eines Gutachtens, mit dessen Hilfe seine schwerreiche Patientin entmündigt werden soll. Auftraggeber ist der Ehemann, der sich dadurch einen größeren Freiraum für seine homosexuellen Eskapaden verschaffen will.

Für Vogt ist das Für und Wider eines solchen Ansinnens keine Frage der ärztlichen Ethik, sondern allenfalls seiner Wissenschaftsstrategie. Welchen Goldesel soll er schlachten? Den aufgrund seiner homosexuellen Affären öffentlich bereits angeschlagenen Industriemagnaten oder dessen Ehefrau? Er entscheidet sich gegen seine Gönnerin, die bald darauf ins Sanatorium wandert.

Nach dem Tode ihres Staatsgründers erhält der Hirnforscher von der Regierung der Sowjetunion den Auftrag, Lenins Gehirn auf die Spurenelemente des Genialen hin zu untersuchen. Bei der Autopsie hatte es nämlich eine böse Überraschung gegeben: stark eingefallene Windungen und Erweichungen der Hirnsubstanz offenbarten den Spätsyphilitiker. „Erstaunlich, daß mit so wenig Masse noch so tief gedacht werden kann“, zitiert der Volkskommissar für das Gesundheitswesen einen der Beteiligten an der Sektion. Doch, so fügt er hinzu, Vogt werde das Gehirn in so kleine Stücke zerlegen, daß dessen Erscheinungsbild zum Zeitpunkt des Exitus nicht mehr erkennbar sein werde.

Und so geschieht es: Das Gehirn wird auf 31.000 Objektträger verteilt, die nunmehr nur noch Unverfängliches enthüllen. Doch irgend jemand torpediert das Projekt und vertauscht ganze Schnittserien der Leninschen Hirnzellen mit denkendem Mittelmaß aus bereits abgestorbenen Teilen des sowjetischen Partei- Brain-trusts. Um zu retten, was zu retten ist, tauscht Vogt seinerseits Lenins Resthirn gegen seine private Schnittsammlung aus und nimmt es mit nach Berlin. Soweit zur Handlung des Romans.

Der Germanist Peter von Matt zeigte sich empört über den Spengler-Roman: „Das sind doch alles Idioten, die dort auftreten!“ Vermutlich hatte von Matt dabei Gestalten wie den Assistenten eines hirnanatomischen Laboratoriums vor Augen, der beim Auspacken eines Dichterhirns ausrutscht und unglücklich fällt — direkt auf das „Präparat“ — und es dadurch „zur Gänze ruiniert“. Die Beschreibung des „vagabundierenden Patientenguts“, also gutbetuchte Patienten, die sich die Ärzteschaft zum kollektiven Ausnehmen gegenseitig überweisen, wird ihm auch wohl nicht gefallen haben — ganz zu schweigen natürlich von den Ausführungen über das „Afterbluten“ des Großindustriellen.

Von Matt hat recht — aber was kann schon so verrückt sein wie die Wirklichkeit selbst?! Oskar Vogt hat es wirklich gegeben, das „Patientenmaterial“ — oder wie Sigmund Freud einmal gesagt hat, der „Goldfisch“ — hat vagabundiert, und auch die Afterblutungen könnten durchaus in der beschriebenen Form stattgefunden haben. Denn der Betroffene war kein Geringerer als Friedrich Krupp, bei dem ein ausgesprochener Hang zum Gleichgeschlechtlichen historisch verbürgt ist.

Im Roman wird Vogt als „dynamisch, jovial, bisweilen jähzornig“ geschildert. Nach den vorliegenden Quellen muß Oskar Vogt (1870-1959) tatsächlich eine ziemliche Nervensäge gewesen sein. In den einschlägigen Studien über die Geschichte des von der Familie Krupp mit Millionenbeträgen geförderten „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung“ heißt es, Vogt habe im Ruf gestanden, „aggressiv, unverträglich und als Institutsdirektor ungeeignet zu sein“. Er sei ein „ehrgeiziger Querulant“ gewesen, selbst seinem Mäzen Krupp gegenüber.

Auch die Analyse des Leninschen Hirns ist historisches Fakt. 1925, also ein Jahr nach dessen Tod, nahm Vogt ein Angebot der sowjetischen Regierung an, das Gehirn des Revolutionärs zu untersuchen und ein Staatsinstitut für Hirnforschung in Moskau aufzubauen, dessen Direktor er bis 1930 war. 1931 erhielt Vogt dann sein Hirnforschungsinstitut in Berlin.

Obwohl er für ein „Sammlerhirn“ gewiß seine eigene Großmutter verkauft hätte, gehörte Vogt dennoch nicht zu jenem Typus Wissenschaftler, der sich leicht korrumpieren ließ. So mußte er sein Institut 1933 mehrfach gegen Übergriffe der SA verteidigen, weil er sich weigerte, jüdische Mitarbeiter zu entlassen. 1935 wurde er, von Hitler persönlich, in den Ruhestand versetzt. Mit Hilfe Krupps konnte er später ein privates Institut für Hirnforschung in Süddeutschland aufbauen, wo er bis zu seinem Tode 1959 wirkte.

Der Sinologe und Historiker Tilman Spengler hat in seinem Roman den hirnanatomischen Geist der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts präzise getroffen. Wenn man die fast liebevolle Beschreibung einer Sezierung liest, bei der sich die Haut mit einem Geräusch von der Schädeldecke löst, „als würde eine Wurst gepellt“, glaubt man einen der Lehrer Vogts sprechen zu hören: „Da dem Pathologischen Institut viele Leichen neugeborener Kinder zugingen, so beschloß ich mich an diesem leicht zu handhabenden Material über den Hirnbau zu orientieren und begann (...) mit einem fünf Wochen alten Knaben, der den nicht gewöhnlichen Namen Martin Luther trug und der durch die überraschenden Bilder, welche sein Gehirn mir darbot, auch eine Art Reformator werden sollte.“

Autor dieser Zeilen ist jener Paul Flechsig, den Spengler in seinem Roman über den Umgang mit Mäzenen sagen läßt: „Kap Horn müssen Sie denen versprechen, nicht Norderney!“ und der seinerzeit die Kollegenwelt als „Radau-Neurologie“ beschimpfte. Flechsig und Vogt, auch dies ist von Spengler verarbeitet worden, verband eine lebenslange Intimfeindschaft, nachdem Flechsig seinem Doktoranden eine Entdeckung gestohlen hatte.

Lenins Hirn ist äußerst unterhaltsam und so gut recherchiert, daß es einem Medizinhistoriker den blanken Neid ins Gesicht treiben kann, auf manche Quellen nicht selbst gestoßen zu sein. Zweifel mögen zumindest an einem Punkt angebracht sein. So scheint es ein Ergebnis (legitimer) dichterischer Freiheit Tilman Spenglers zu sein, daß Lenins Hirn nicht dort liegen soll, wo Lenins Chefkonservator Debow es vor kurzem noch gesehen hat: in der Medizinischen Akademie in Moskau — neben den „Elitegehirnen“ Majakowskis, Stalins und Sacharows.

Tilman Spengler: Lenins Hirn.

Roman. Rowohlt-Verlag Reinbek bei Hamburg, 320 S., geb., 39,80 DM.

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