: Stadt mit »Frostfaktor«
■ Gewässer vereisen, Rohre platzen/ Obwohl der Tag mit minus sieben Grad beginnt, kommen einige ins Schwitzen/ Selbst Ökofamilien wollen auf heiße Duschen nicht verzichten
Die Berliner fühlen sich seit einer Woche wie Gefrierkost. Nachts herrschen auf den Straßen Temperaturen wie sonst nur in den Tiefkühltruhen besserer Kaufhäuser. Am Tage steigt die Quecksilbersäule gerade auf Minus zwei Grad Celsius. Als gestern die Sonne aufging, mußte sie bei Minus sieben Grad beginnen, die Stadt aufzuwärmen. Gewässer und Flüsse frieren zu, Wasserrohre platzen und der Strom wird knapp. Da kommt — trotz Frost — mancher ins Schwitzen.
Beispielsweise die Männer von den Wasserwerken. Denn Wasserrohre haben eine unpraktische Eigenschaft. Obwohl Bauarbeiter die Stahlrohre bis zu einen Meter fünfzig unter der Erde eingraben, damit sie nicht einfrieren können, platzen sie einfach, wenn es kalt wird. Wenn die Erde »friert«, ächzen und arbeiten die Bodenmassen im Untergrund und reißen am Netz der Trinwasserversorgung. Im vergangenen Jahr gingen im Schnitt in der gesamten Stadt 61 Rohre pro Woche kaputt. Mit dem Kältesturz Anfang dieser Woche habe sich die Zahl der Leckagen um ein Zehntel erhöht, berichtet Günther Rudolf, Pressesprecher der Berliner Wasserbetriebe: »Das könnte man den Frostfaktor nennen.« Rohrbrüche sind wenig spektakulär. Es sei denn, sie platzen über Autobahnen. Seit dem Kältesturz kennt jeder die 15 Zentimeter dicke Trinkwasserleitung, die unter der Friedenauer Brücke durchläuft. Sie »leckte«, und das Naß lief auf die darunterliegende Westtangente und verwandelte die Aspahltpiste in eine Schlittschuhbahn. Der Winterdienst habe ständig streuen müssen, damit keiner ins Rutschen kam, sagt Bernd Müller, Sprecher der Stadtreinigung. Die »kleine Geschichte« (Rudolf) gefährde die Trinkwasserversorgung allerdings nicht. Der zuständige Senator für Verkehr- und Betriebe Herwig Haase (CDU) kommt also noch nicht ins Schwitzen — nur die Wasserwerker, die die Leitung zum Flicken eisfrei klopfen müssen.
Das Leitungswasser — von kleinen Störungen abgesehen — fließt also. Die Flüsse dagegen verlieren an Tempo. Langsam wird es auf Elbe und Oder glatt, stellt die Wasser- und Schiffahrtsdirektion Ost fest. Manche Schute werde bereits durch das Eis behindert. »Wenn die Kälte anhält, dann hat das auch auf Berlin Auswirkungen«, befürchtet Gert Rose von der Berliner Hafen- und Lagergesellschaft (BeHaLa). Die BeHaLa versorgt alle öffentlichen Gebäude mit Koks (im Westteil) und Braunkohle (im Ostteil), die Bauwirtschaft mit Zement sowie anderen Materialien und lebensmittelverarbeitende Betriebe mit Getreide. Wenn die Wasserwege zufrieren, so Rose, würden die Lieferanten ihre Rohstoffe statt auf Schiffen auf die Bahn verladen. Bleibe es kalt, könne es so kommen wie in vergangenen Wintern, als sich die Züge bis in den Grunewald gestaut hatten, meint der BeHaLa-Chef. Weil die Züge im Hafen dann ungeheuer schnell ausgeladen werden müssen, würden die Hafenarbeiter »auftauen«.
Ins Schwitzen gekommen sind in dieser Woche vor allem die Chefs der Bewag. Denn im Westteil der Stadt ist der Strom knapp geworden, weil eine Turbine im Kraftwerk Wilmersdorf kaputtgegangen ist. 280 Megawatt — knapp über ein Zehntel der Stromproduktion im Westteil — fehlt deshalb bis kommende Woche. Die Stromhersteller appellierten deshalb an die Bevölkerung, Steckdosen möglichst selten in Anspruch zu nehmen. Die Bürger wiederum legten darauf die Telefone der Bewag-Berater lahm, sagt Udo Lemm, Pressesprecher des Versorgungsunternehmens. Sie wollten wissen, bei welchen Geräten man am sinnvollsten den Stecker herausziehen sollte. Der Aufruf habe geholfen, berichtet Lemm, denn die Berliner hätten im Vergleich zu entsprechenden Tagen im vergangenen Jahr 30 Megawatt weniger verbraucht. Verhältnismäßig wenig: Der Tagesverbrauch der hauptstädtischen Westhälfte liegt bei einer durchschnittlichen Tagestemperatur von Minus 10 Grad knapp unter 2.000 Megawatt.
Die Strommonopolisten zeigten dieser Tage wieder wenig Hemmungen, die Kältewelle für ihre Firmenziele zu funktionalisieren. Bewag- Chefs versäumten keine Gelegenheit, den schnellen Bau der Stromtrasse durch den Spandauer Forst zu fordern. Nur durch diesen Anschluß an das Netz der Bundesrepublik könne eine sich »verschärfende« Situation unterbunden werden. Doch je mehr Strom verbraucht wird, desto mehr Kohlendioxid steigt in die Atmosphäre auf.
Der sogenannte Treibhauseffekt ist auch der Grund, warum Hartwig Berger, Ökoexperte der Fraktion Bündnis 90/Grüne, trotz Minusgraden ziemlich heiß wird. Nicht eine angebliche Stromknappheit in den Wintertagen, sondern der »hemmungslos wachsende Stromverbrauch« sei das Alarmzeichen. Der Umweltpolitiker ist im übrigen einer der wenigen, die in dieser Woche mehr Strom sparten als sonst. Berger verzichtet derzeit aufs Duschen. Man könne sich schließlich auch am Becken waschen. Seine Sparmaßnahme sei allerdings nicht einmal innerhalb der Familie durchzusetzen. Ihnen sei es im Badezimmer einfach zu kalt. Winter eben. Dirk Wildt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen