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»Fümms bö wö Äää Zää Uu!«

■ Der Senator für Jugend, Thomas Krüger, sang und las Schwitters in der Galerie Zunge

Nach Politikern zum Anfassen verlangt immer wieder das Wahlvolk, doch wenn sich dann dazu einmal Gelegenheit bietet, läßt es sich nicht blicken. Dabei hat die Galerie Zunge am Prenzlauer Berg ein überzeugendes Konzept erarbeitet, Politiker in einer fast privaten Atmosphäre zu präsentieren: der Geladene darf seine Lieblingsgedichte rezitieren und außerdem einen Künstler mitbringen, der die Lesung begleitet.

Gregor Gysi war mit Zauberer gekommen, Carola von Braun in Begleitung einer Jazzpianistin. Thomas Krüger stellt den Jazzmusiker Wilfried Staufenbiel vor, der mit der recht ungewöhnlichen Kombination Cello und Gesang brilliert. Dann liest der Senator für Jugend und Familie aus: Die Silbe Schmerz von Paul Celan, »traurig wie hans moser im sperma weinholds« von Matthias Baader Holst, und aus dem Gedichtband Einsamer Nie von Gottfried Benn. Höhepunkt ist jedoch die halbstündige Vorstellung Kurt Schwitters Ursonate. Krüger liest und singt stehend. Die Hände zucken flatterhaft, der Senator lehnt sich weit zurück, stößt dann wieder hervor, um mit einer entschlossenen Handbewegung eine Seite der Partitur umzuschlagen. Mühelos bewältigt er Schwitters Vokal- und Konsonantensalat, da kommen ihm sicherlich seine Erfahrungen als ehemaliger Straßenschauspieler und Versicherungsvertreter zugute.

Die Ursonate erfordert Mumm und Ausdauer, der Künstler Krüger hat beides. Bei dem Politiker Krüger sind da einige Zweifel angebracht, das wurde in einem Gespräch nach der Vorstellung deutlich. »Politische Entscheidungen kannst du nur durchhalten, wenn du eine dicke Haut hast«m, begründet er sein herumgeeiere während der Räumung der Mainzer Straße. Das sei eine Machtfrage gewesen, die im Westteil der Stadt entschieden wurde. Aber warum hat er nicht öffentlich Partei ergriffen für die Hausbesetzerszene, zumal er die Friedrichshainer Punks seit 1989 im Rahmen der offenen Kirchenarbeit kannte?

»Im politischen Bereich verbrennt man, wenn man ständig Probleme auf den Tisch bringt, die zum Scheitern verurteilt sind«, rechtfertigt sich Krüger, »ich habe Erfahrungen, wo ich dann abgebürstet wurde.« Die Quadratur der Kreises versucht der Senator, wenn er dazu beiträgt, alternative Lebensformen zu zerschlagen, und gleichzeitig eine »Avantgarde« fordert, die »an den Rändern gegen das System arbeitet. Sie ist notwendig, denn ich glaube nicht an die Selbstbekehrung des politischen Systems in dem Sinne, daß es mit gutem Beispiel voran geht.«

Krüger windet sich in schmucken Formulierungen. Er ahnt wohl genauso wie der Zuhörer, daß ihm längst der Schneid abgekauft wurde. Daß der ehemalige Forum-Politiker einer Illusion aufgesessen ist, wenn er glaubte, einige Reformideen aus der Zeit des Aufbruchs in den kalten Westen hinüber retten zu können.

»Politik soll sich nicht in alle menschlichen Probleme einmischen«, heißt das dann, oder »Sozialpolitik hängt mit öffentlichen Leistungen zusammen, und wenn die öffentliche Hand wenig hat, wird es zuerst bei uns schwierig. Man muß dann mit dem auskommen, was da ist.« Und es ist zur Zeit sehr wenig da.

Um die jugendlichen Skinheads von der Straße zu bekommen, hat der Senat ganze 45 Streetworker neu eingestellt. Zwar wurden weitere 45 Stellen im Bereich »aufsuchende Jugendsozialarbeit« geschaffen, — vor allem in den Jugendfreizeiteinrichtungen — die wenigen versprengten Maßnahmen wie »Erziehen statt strafen«, in der straffällig gewordene Jugendliche auf Bauernhöfen und in Werkstätten resozialisiert werden sollen, zeigen dann doch eher die Unzulänglichkeit des Gesamtkonzepts. Das ganze Ausmaß der senatseigenen Hilflosigkeit illustriert schließlich der sogenannte »Experimentierfonds«. Ein Jokertopf, aus dem ungewöhnliche Versuche finanziert werden sollen. Um jugendliche Skinheads auf die FDGO einzuschwören, schließt Krüger auch nicht aus, daß Ferienmaßnahmen (!) aus dem Fonds bezahlt werden.

Bei dieser völlig unzureichenden Jugendarbeit ist es kein Wunder, daß dem Senator besonders die Kinder ans Herz gewachsen sind. »Kinder haben mehr Ideen als Jugendliche«, behauptet Krüger. Sein ganzer Stolz ist das »Kinderparlament«, von dem er sich gerne beraten läßt. Das hat ihm viel Publicity eingebracht, und Krüger sieht auch nur einen Weg, daß Ressort Jugend und Familie zu stärken: »Nicht über Parteien und Verwaltung, sondern über die öffentliche Meinung.« Bei der Frage, welche anderen Ressorts ihn reizen könnten, atmet der Senator tief durch.

Dann grinst er und antwortet: »Kultur... und Stadtplanung. Aber davon habe ich leider keine Ahnung.« Werner

Galerie Zunge Wichertstraße 71, Nähe U-/S-Bahn Schönhauser Allee, Tel.: 4481257. Nächster Gast in der Galerie Zunge: am 4.3. 92 um 19.30 Uhr liest Regine Hildebrandt.

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