: Demut ist eine furchtbare Macht!
■ Heute startet „Der innere Kreis“. Oksana Bulgakowa sprach mit dem Regisseur Andrei Konchalovsky über russische Mentalität, Stalin, Jelzin und Dostojewski
Oksana Bulgakowa: Im Vorspann steht, die Geschichte Ihres Filmvorführers sei authentisch. Was genau ist daran authentisch?
Andrei Konchalovsky: Alles. Seine Beziehungen zu Stalin. Die Episode, wie er in den Kreml gebracht wurde und dort blieb. Alles, was den Kreml angeht, ist authentisch.
Und der Selbstmord seiner Frau, Berijas ungeborenes Kind und die jüdische Waise?
Frau und Kind sind ausgedacht.
Gibt es die „Viehtreibergasse“ wirklich?
In der Realität heißt es noch schlimmer: Viehtreibersackgasse.
Wann haben Sie diesen Filmvorführer kennengelernt?
Vor fünfundzwanzig Jahren. Damals wurde ein Film von mir verboten, Asjas Glück.
Und er zeigte den Film jenen Leuten, die ihn verboten haben...?
So ungefähr. Er erzählte mir damals, daß er bei Stalin gearbeitet hatte. Dann bei Chruschtschow. Dann bei allen unseren Filmministern. Der Mann ist voller Energie und bis heute ein euphorischer Stalinist. Ich dachte mir damals: Was für ein Film könnte daraus werden! Zugleich glaubte ich nicht daran, daß ich einen solchen Film jemals machen könnte.
Und wann haben Sie darüber nachgedacht?
Vor fünf, sechs Jahren. Ich traf in Belgrad Alexej German, einen Regisseur aus Leningrad. Und sagte ihm: „Komm, ich schenk' dir eine Story. Über Stalins Filmvorführer. Immerhin habt ihr jetzt die Perestroika.“ Doch German reagierte nicht darauf. Anderthalb Jahre später beschloß ich, diesen Film selber zu drehen.
Haben Sie ihn als einen russischen oder einen amerikanischen Film konzipiert?
Als ich in Rußland lebte, dachte ich natürlich, einen russischen Film zu machen. Dann begannen meine Reisen — durch Europa und Amerika. Ich wollte einen Film drehen, den auch die Amerikaner verstehen. Denn alle unsere Geschichten mit der Geschichte sind ihnen total fremd. Ich habe The Inner Circle so kalkuliert, daß man ihn in der ganzen Welt sehen kann. Als einen internationalen Film. Was ist Bertoluccis Letzter Kaiser — ein amerikanischer, chinesischer, italienischer Film? Können Sie mir diese Frage beantworten?
Sie drehten aber den ganzen Film in Rußland auf englisch mit gemischtem Stab in einer italienischen Koproduktion...
Die Frage ist nicht, wo gedreht wird, sondern, worum es geht. Man hat jetzt so viele Filme über Stalin gemacht. In Reue zum Beispiel erscheint er als Monster. Und es bleibt unklar, warum Millionen von Menschen ihn so vergöttert haben.
Für mich hat Ihr Film dieses Geheimnis eher verdunkelt. Ihre weibliche Heldin wird ja noch vom Tyrannen verführt — Ihr männlicher Held dagegen muß nicht mal mehr verführt werden, er liebt Stalin selbstlos und über alle Maßen...
Na gut, vielleicht kann man das auf der Ebene von Freud auch so erklären. Doch für mich war dieser Iwan ein Symbol für die russische Nation. Für die russische Mentalität.
Eine religiöse Mentalität?
Zweifelsohne. Der russische Atheismus ist ja auch eine zutiefst religiöse Erscheinung. Und zwar so aggressiv, daß er religiöse Züge annimmt. Wenn Sie die Gesichter in der Menge beobachten, die begeistert Stalin anschauen — was ist das? Alles scheint so elementar, so klar zu sein. Ein Tyrann, ein furchtbarer Mensch, ja! Aber warum wurde er dann so vergöttert? Warum starben so viele mit seinem Namen auf den Lippen?
Ja, warum?
Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, das zu begreifen. Zusammen mit ihnen, zusammen mit meinen Helden. Vielleicht darum, weil sie naiv waren und fest daran glaubten, eine bessere Gesellschaft erbaut zu haben. Vielleicht dachten sie, daß alles Böse nicht von ihm käme, sondern von den anderen. Vielleicht brauchten sie einen Vater, der sich um sie kümmert. Und auch einen absoluten Herrscher, der alles weiß, für alles die Verantwortung trägt, alle retten wird und allen helfen. Vater, Gott, Zar. Rußland ist, was das Niveau der Mentalität angeht, heute noch im 16. Jahrhundert.
Hat die Perestroika daran nichts geändert?
Perestroika ist ein Prozeß der Befreiung von vielen Dingen, nicht aber von der angestammten Mentalität. Sie läßt sich nicht so einfach ändern, sondern braucht dafür Jahrtausende. Man kann diese Veränderung durch die Massenmedien beschleunigen und etwas beeinflussen. Doch die Frage ist sehr verwickelt. Ich glaube, daß die Nation eine ökologische Struktur ist. Man kann sie nicht gewaltsam wandeln, sie kann sich nur selbst ändern, und zwar infolge von Mutationen. Der Homo sovieticus zum Beispiel ist eine Mutation.
Und was wurde da mutiert?
Der feste Glaube an die weltverbessernde Mission mit dem Fehlen jeglicher Zweifel. Deshalb hatte es der Terror so bequem. Man lebte in dem festen Glauben, wenn dies und jenes vermieden wird, kann einem nichts passieren.
Sie beschreiben die Struktur der stalinistischen Gesellschaft als etwas durchaus Rationales und Logisches: geh nicht nach links, dann verlierst du nicht den Kopf. Folgt man jedoch den Zeitzeugnissen, war es eher ein irrationales Organisationsprinzip: Zu Opfern des Regimes wurden seine begeisterten Befürworter...
Das System kann verschieden erklärt werden, logisch, unlogisch. Doch die Mentalität bleibt immer etwas Mystisches. Für mich war wichtig, auf der Ebene des Selbstbewußtseins zu bleiben, das bei der russischen Nation sehr niedrig ist. Schon Tschechow schrieb: „Wenn bei uns etwas nicht in Ordnung ist, finden wir immer einen Schuldigen. Mal pfuschen die Franzosen dazwischen, mal Wilhelm, mal die Juden.“ Das sind Gespenster, doch wie schön beruhigen sie unsere Selbstzufriedenheit! Dieser Gedanke, daß immer ein anderer die Schuld trägt, ist in historischer Hinsicht das Merkmal einer sehr jungen Nation.
Trotzdem beschäftigte sich die russische Intelligenz das ganze 19. und 20. Jahrhundert über nur mit den eigenen Schuldkomplexen, das war eine ganze Philosophie, von den Dekabristen und Alexander Herzen, bis zu den Volkstümlern und Sozialdemokraten.
Aber dieser Schuldkomplex war verlogen.
Die russische Intelligenz verklärte ihre Schuld vor dem Volk. Darauf baute eine große Literatur: Dostojewski, Tolstoi...
Ja, bloß das Volk hatte damit nichts zu tun. Wenn ein Intellektueller mit seinen Schuldkomplexen zum Volk ging, wurde er dort eben dafür mit Knüppeln verjagt...
Aber Sie lassen Ihren Helden, einen Mann aus dem Volk, einen Iwan, auch nur durch ein Schuldgefühl (vor der Frau, die er nicht genug geliebt hat; vor dem Kind, das er verraten hat) zu einem Individuum werden.
Ich idealisiere ihn ein bißchen.
Wozu? Sie haben doch etwas gegen verklärte Schuldgefühle?
Man kann doch nicht in Hoffnungslosigkeit versinken. Man muß doch eine Entwicklungsmöglichkeit einräumen, wenigstens ein bißchen Hoffnung darauf, daß im russischen Volk ein Verantwortungsgefühl erwacht. Ein persönliches, individuelles. Weil die Russen heute noch bar jeden Invidualismus sind. Das ist eine der größten Fehleinschätzungen Gorbatschows. Er hat nicht verstanden, daß die Russen mit der Freiheit und dem Recht auf Eigentum nichts anfangen werden. Sie bleiben, wo sie sind. Gorbatschow meinte, daß für ihn von unten, aus den Massen, Unterstützung kommen würde, doch was kam, war die Lebenseinstellung: Ich habe nichts, und der Nachbar soll nichts haben. Das war für Gorbatschow der größte Schock.
Das wird auch Jelzin wegfegen.
Das ist schon eine andere Geschichte. Ich weiß nicht, warum Jelzin gewonnen hat. Vielleicht nur, weil er Gorbatschow so sehr gehaßt hat. Doch all das zeugt nur von der Unreife des nationalen Selbstbewußtseins. Es ist sinnlos, in Rußland eine Demokratie europäischen Musters zu erwarten. Vielleicht wird in fünfzehn Jahren aus Rußland das Mexiko des Jahres 1920. Es wird sehr reiche Leute geben, und das arme Volk wird sich ausbeuten lassen, weil es geduldig ist. Alexander Herzen meinte, der Herr ist in dem Maße Herr, wie ihm seine Leibeigenen erlauben, Herr zu sein.
Sie meinen, die Menschen in Rußland sind immer noch Sklaven? So zeichnen sie auch die Menschen in Stalins Umgebung.
Nein, das sind keine Sklaven, das sind Verehrer.
Selbstlose?
Ja. Noch Araktschejew schrieb an Alexander I. „Ergeben ohne Schmeichelei“. Iljin beschrieb diese russische Eigenschaft sehr schön: „Es gibt nichts Besseres als die offene Bewunderung des Herr
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schers.“ Der Westen glaubt immer noch, daß für Rußland die einzige Rettung in der Demokratie liege. Auch die sowjetischen Liberalen meinen, wenn sie die Demokratie haben, klappt alles andere. Doch in Rußland klappt es mit der Demokratie nicht, weil Rußland dazu nicht bereit ist. Dort braucht man eine Demokratie nur in ökonomischer Hinsicht, in politischer Hinsicht dagegen eher eine Verschärfung des Regimes. Das hat schon Stolypin versucht...
... und wurde sogleich Opfer eines politischen Attentats.
Ja, weil seine Politik geklappt hat.
Aber er wurde beseitigt. Also empfand man seine Figur als etwas Fremdartiges, Störendes.
Stolypin meinte, liberale Reformen würden im Volk lediglich das Gefühl einer geschwächten Macht hervorrufen. Man muß liberale Reformen für die Wirtschaft schaffen und die Macht verstärken. Jelzin versteht das auch nicht. Dabei meine ich nicht, daß jedes autoritäre Regime zwangsläufig zur Diktatur führt. Ein starkes Regime kann die Freiheit des Unternehmertums begünstigen. Und wenn sich das Land endlich allein durchfüttern kann, wird es auch über andere Dinge nachdenken können. Aber warum sprechen wir eigentlich nicht über den Film?
Sie haben immerhin einen politischen Film gemacht. Eine Erklärung für das heutige Desaster mit Hilfe einer alten Geschichte.
Sie haben die Sowjetunion vor etwa fünfzehn Jahren verlassen. Wo wohnen Sie jetzt?
Ich pendele zwischen London, Moskau und Los Angeles.
War Ihren ausländischen Schauspielern eigentlich klar, was sie da spielen, wenn der russische Charakter so extrem anders ist? Wie haben Sie sie dazu gebracht, ihn zu verstehen?
Das war in der Tat für sie sehr kompliziert. Für einen amerikanischen Schauspieler fast unbegreiflich. Überhaupt für einen Menschen aus dem Westen. Sie lesen Dostojewski und meinen, was für eine geniale Literatur! Wie genial ist das ausgedacht! Dabei ist alles bei Dostojewski echt. Einem Ausländer erscheint dieses Leben wie eine von Dante ausgedachte Hölle. Doch Raskolnikow ist ein urnormaler, russischer Mensch. Wenn zwei Russen zusammensitzen und trinken, dann reden sie über den Tod, Gott, die Liebe... Nie über Geld, sondern immerzu über ewige Wahrheiten. Das einem Amerikaner zu erklären ist unmöglich! Das ist Asien, und die Beziehungen laufen hier nur auf der Vertikalen. Zum Chef von unten nach oben, zum Untergebenen von oben nach unten. Ich spreche von der Fähigkeit, Herr und Lakai gleichzeitig zu sein. In einem. „Vor Jakob auf die Knie — und Sidor in die Schnauze“ — ein russisches Sprichwort. Deshalb sind die russischen Schauspieler so biegsam, so flexibel — sie können auf der Stelle das Register wechseln. Einem westlichen Menschen, der nur horizontale Beziehungen gewohnt ist, fällt es schwer, das zu verstehen. Dostojewski meint, daß im russischen Volk die Begeisterung für eine große Idee wunderbar mit Niedertracht zusammengeht.
Ihr Film erinnerte mich an manchen Stellen sehr stark an die pathetischen Stalinkult-Filme. Haben Sie bewußt deren Ästhetik kopiert?
Alles ist bewußt. Ich habe doch bewußt das Bild Stalins aus der Perspektive eines Menschen genommen, der ihn liebt. Man muß den Stalinismus von innen heraus entlarven. Ein Steptanz auf dem Sarg des Tyrannen ist einfach. Das tun die Sklaven. Nikolai Berdjajew sagte sehr treffend, das Schuldgefühl sei die Eigenschaft des Herren, das der Rache erfüllt den Sklaven. In Rußland dominiert jetzt das Rachegefühl.
Doch mich wunderte Ihre stalinistische Ästhetik gerade in der Szene, als sich Ihr Held von diesem Über- Vater löst. Aus dem Himmel kommt eine Stimme, die ihn läutert, fast wie in dem Film „Der Schwur“, als auf Stalin der heilige Geist des toten Lenin in Gestalt eines Lichtstrahls niederkam.
Sie vermischen Kult und Religion. Der Satanismus ist auch ein Kult. Mein Held lebte im Keller und sah sein Leben lang nur Füße und freute sich darüber, auch wenn es nur Ochsenfüße waren. Erst am Ende des Films kam ihm die Idee, daß man auch zum Himmel aufschauen kann.
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