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»Orientierungslosigkeit ist ein Grundproblem«

■ Ein neues Beschäftigungsprogramm (301) bezahlt 300 Arbeitsplätze/ Denn vielen Jugendlichen im Osten machte die Wende einen Strich durch die Lebensplanung/ Sozialsenatorin Stahmer spricht von »existentieller Verunsicherung«

Berlin. Seitdem die Mauer nicht mehr steht, ist Axel R. arbeitslos. Der 25jährige hatte vier Jahre als Monteur in einem Ostberliner Elektromechanikbetrieb gearbeitet. Nach der Wende mußte der Betrieb dichtmachen, und Axel saß auf der Straße. Wegen seiner Vorgeschichte findet er derzeit keine Arbeit. Insgesamt 29 Monate saß er zu DDR-Zeiten im Knast. Die Schule besuchte er bis zur achten Klasse, die letzten zwei Jahre davon lebte er im Kinderheim. Danach fing er eine Lehre an, wurde straffällig und brach sie nach dem Vollzug ab. Während der Zeit als Monteur jedoch hatte er sein Leben im Griff. Bis zur Wende.

Bereits jeder sechste Arbeitslose in Ostberlin ist unter 25 Jahren, dazu gehört auch Axel R. Rund 3.300 arbeitslose Jugendliche sind unter 20 Jahre alt. Sozialsenatorin Ingrid Stahmer beobachtet »eine existentielle Verunsicherung im Osten«. Die großen Hoffnungen auf das neue System hätten sich nicht erfüllt. Dadurch entstehe Verzweiflung bei den Jugendlichen.

Um der Verunsicherung entgegenzuwirken, startete die Sozialsenatorin Ende vergangenen Jahres das Beschäftigungsprogramm 301 für arbeitslose Ostberliner Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt und soll 301 Jugendlichen zu Arbeitsplätzen verhelfen, indem es bis zu drei Jahre die Lohnkosten der Arbeitgeber voll übernimmt. »Wir wollen vorrangig etwas für diejenigen tun, die auf dem Arbeitsmarkt überhaupt keine Chance haben«, sagt 301-Mitarbeiter Hans Albert Schlepper.

Sind die Jugendlichen im Programm aufgenommen, haben sie aber noch keinen Arbeitsplatz. Den müssen sie sich selbst suchen. Sie bekommen eine Bescheinigung in die Hand, daß 301 die Lohnkosten übernimmt. Akzeptiert werden vom Programm Ostbetriebe mit bis zu 50 Mitarbeitern, da gleichzeitig das Kleingewerbe gefördert werden soll, indem es kostenlose Arbeitskräfte bekommt. Die Betriebe verpflichten sich, die Jugendlichen während der Arbeitszeit fortzubilden. »Im Moment haben wir einen riesigen Andrang«, berichtet 301-Mitarbeiterin Sigrid Wicht, rund 30 Vorstellungsgespräche stünden in den nächsten Wochen an, täglich kämen bis zu vier Bewerber dazu. Mittlerweile ist das Modellprojekt auch unter Sozialarbeitern bekannt: Streetworker, die mit rechtsradikalen Jugendlichen arbeiten, wollen mit 301 Kontakt aufnehmen. »Jetzt kommen immer mehr Problemfälle«, sagt Sigrid Wicht. Arbeitslose Abiturienten werden in das Programm nicht mehr aufgenommen, zu hoch ist der Andrang von Jugendlichen mit geringerer Qualifizierung. Besonders schwer hätten es Jugendliche mit Haftstrafen, auch wenn sie im Programm aufgenommen sind. Zu ihnen gehört der 25jährige Axel R. Seit mehreren Wochen sucht er mittlerweile — erfolglos. Sigrid Wicht hat es im Unterschied zum Kreuzberger Programm oft mit Jugendlichen zu tun, die ihre Lehre abgebrochen haben, weil die Wende dazwischengekommen ist. »Viele sind ja doch in eine Ausbildung gedrängt worden, die sie gar nicht wollten«, meint sie. Sie beobachte, daß die meisten völlig unselbständig seien. »Die Orientierungslosigkeit ist ein Grundproblem«, fügt ihr Kollege Hans Albert Schlepper hinzu. Oft müßten die vier 301-Mitarbeiter die Jugendlichen erst grundlegend beraten.

Im Februar eröffnete in Prenzlauer Berg eine Jobbörse für arbeitslose Jugendliche aus dem Bezirk, die nur kurzfristige Jobs zwischen drei Tagen und vier Wochen suchen. Doch Mitarbeiterin Sigrid Brinker bemerkt bei den Jugendlichen eher einen Run auf die wenigen angebotenen freien Lehrstellen, die neben den Jobs an der Pinnwand hängen. »Die Jugendlichen hier schauen viel mehr nach langfristigen Stellen«, und die Erwartung, einen Traumjob zu finden, sei höher.

Die 20jährige Anna Maria hat an diesem Tag unter den 17 Angeboten an der Pinnwand nichts gefunden und sitzt etwas enttäuscht in dem bunt gestrichenen Raum. »Am Freitag komme ich nochmal, und zwar früher als heute«, sagt sie.

»Ich habe eine Lehre in einer Mosaikwerkstatt gemacht und danach dort gearbeitet«, erzählt sie. Doch die Werkstatt ging pleite — »Mosaik ist nicht mehr gefragt«. Jetzt will Anna Maria Malerei studieren, doch dazu fehlt ihr das Abitur. Das habe sie zu DDR-Zeiten nicht machen können, weil sie trotz guter Noten nicht zugelassen wurde, »die hatten andere Kriterien«.

Anna Maria ist seit vergangenem Frühjahr arbeitslos, »beim Arbeitsamt sagten sie mir, ich sei sowieso unvermittelbar«. Viele ihrer Freunde seien nach der Wende arbeitslos geworden, erzählt die zierliche, rotblonde 20jährige. Sie selbst macht derzeit das Abitur am Abendgymnasium und will tagsüber mit Jobs vor allem ihre Miete finanzieren, die sich bis Ende des Jahres verdreifacht haben wird.

Ob Projekte wie das Beschäftigungsprogramm »301« oder die Jobbörse in Prenzlauer Berg wirklich diejenigen Jugendlichen erreichen, die es auf dem Arbeitsmarkt am schwersten haben, bezweifelt Gabi Schäfer. Die 30jährige betreut in Prenzlauer Berg eine 18köpfige Gruppe mit rechtsradikalen Jugendlichen. Einige würden sich noch nicht mal arbeitslos melden, zu groß sei die Hemmschwelle, ein Amt zu betreten. Bei der Jobsuche müsse sie selbst mitgehen. Corinna Emundts

»Beschäftigungsprogramm 301«, Maaßenstraße 14, Schöneberg, Telefon-Nummer: 21990449 »Jobbörse«, Dimitroffstraße 84, Prenzlauer Berg, mittwochs von 9-12 Uhr, freitags von 9-11 Uhr

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