Flirten mit und ohne Theorie

■ Scherzen, Lästern und Blicken sind die typischen Umgangsweisen beim Flirten. In Wartezimmern, Krankenhäusern, Volkshochschulen, Universitäten und Büros läßt es sich schlecht flirten.

Der Flirt ist jung. 1894 taucht das Wort „Flirt“ in Deutschland zum ersten Mal in Meyers Konversationslexikon auf, eben zu der Zeit, da in den deutschen Großstädten der schneidig-polternde preußische Offizier durch den sportlich-fairen englischen Gentleman ersetzt wird, das Wahlrecht für Frauen in Reichweite gerät und Emanzipation und Gleichberechtigung mal wieder drängende Themen werden. Der ebenso scharfsinnige wie sensible Berliner Soziologe Georg Simmel schreibt etwa zu dieser Zeit einen Essay über die Koketterie, worin er zeigt, daß selbige eine Art Kampfform der unterdrückten Frau sei: das ausgeklügelte Spiel mit den Herzen der Männer dürfe nicht mit Souveränität verwechselt werden, sondern kompensiere nur dürftig die real nicht existierenden Möglichkeiten sexueller Selbstbestimmung.

Weibliches Kokettieren und männliches Prahlen

Zeitgleich mit dem Absterben des Leitbilds „Offizier“ und der Geburt des „Gentleman“ verjüngen sich weibliche Koketterie und männliche Prahlerei zum Flirt. Im Gegensatz zur Koketterie ist der Flirt gekennzeichnet durch eine Symmetrie der Möglichkeiten zur Machtausübung. Beim Flirten verdreht nicht etwa Er Ihr den Kopf oder Sie Ihm, sondern beide verdrehen einander zugleich den Kopf, so daß beide kopflos sind und keiner den Fortgang der Beziehung einseitig kontrollieren kann. Jede/r ist beim Flirten Opfer und TäterIn; Sie fordert und gewährt mit dem gleichen Nachdruck wie Er seinerseits fordert und gewährt.

Nicht mehr soziale Arrangements— die etwa nahelegen, daß Er den aktiv-gestalterischen Part zu spielen habe —, sondern Zufälligkeiten entscheiden heute, ob der Flirt ins Kino, in die Kneipe, in den VW-Bus oder einfach auseinander führt, ähnlich wie ein Fehltritt, eine einzige Rasenunebenheit ein Fußballspiel zwischen etwa gleich starken Fußballmannschaften entscheiden können. Der Flirt teilt nicht die Eindeutigkeit von Anmache, Anbändeln, Anquatschen, Aufreißen oder Abschleppen, und sicherlich läßt er sich weder einer Affäre, einer Romanze oder gar einem Rendezvous gleichsetzen. Dennoch ist der Flirt mehr als ein nur nettes Gespräch.

Gesetzt den Fall, ein Flirt kann sich nur einstellen, wenn die Betroffenen über eine gleichberechtigte Machtposition verfügen, ergeben sich theoretisch beispielsweise folgende Konsequenzen:

—Der Flirt zwischen Heterosexuellen wird tendenziell überhaupt erst ab den 60er Jahren möglich, weil zuvor von einer wenigstens formal durchgesetzten Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern kaum die Rede sein kann. Unabhängig davon können dominierende Heterosexuelle — kontrollfixierte Machos/ Machas, zeitorientierte Karrieremenschen oder auf rasche Eindeutigkeit drängende Techniker/Innen — ebensowenig wie unterwürfige Heteros und softe Unterwürfige schlicht und ergreifend nicht flirten, weil weder Beginn noch Fortsetzung des Flirts kontrollierbar sind.

—Flirts unter Lesben und Schwulen (die es laut Flirt-Definition in den üblichen Lexika gar nicht gibt) sind demzufolge also leichter möglich als unter Heteros.

—Gleichheit zwischen den Flirtenden hinsichtlich ihrer Schönheit und ihres Alters, Witz, Ironieverständnis und Sprachgebrauch sowie Selbstkonzept und Status und dergleichen mehr ist demnach flirtförderlich, Ungleichheit flirthinderlich. Kein Zweifel, daß es lustvoll knistern kann zwischen einer 50jährigen Frau und einem 20jährigen Mann — nur ist ein gleichberechtigter Zugriff beider aufeinander hochgradig unwahrscheinlich. Aber das ist kein Flirt, sondern ein Liebesverhältnis. Bestenfalls ist an ein Kompensationsgeschäft zu denken, das seine körperliche Attraktivität [finanzielle Unabhängigkeit! d. Säzzerin] mit ihrem hinreißenden Charme verrechnet.

Bisher ist nur die formale Bedingung der Möglichkeit des Flirts angegeben worden. Wie läßt sich der Flirt inhaltlich näher bestimmen?

Flirt: Komplizierter Tanz aus Nähe und Distanz

Zunächst liegt der Gedanke nahe, daß sich im Flirten der Wunsch nach Nähe ausdrückt. Doch diese Vorstellung vom Flirt greift zu kurz, kann der Wunsch nach Nähe doch ebensogut beim Intim-Gespräch oder Anmachen auftreten. Nein, beim Flirten geht es vielmehr um einen komplizierten Tanz aus Nähe und Distanz, in den sich die Beteiligten begeben, warum, sei dahingestellt. Beide Pole, also Nähe und Distanz, sind beim Flirten, im Gegensatz zu anderen Sozialbeziehungen im Alltag gleichermaßen präsent. Logisch gesehen entspricht eine Nähe-Beziehung einer Distanz-Beziehung. Aber die Vermutung liegt nahe, daß jede Sozialbeziehung aus subjektiver Sicht vom Primat einer der beiden Pole ausgeht und der verbliebene Pol dann explizit zum Problem gemacht wird: In einer Ehe-Beziehung haben beide deshalb vor allem damit zu tun, die Distanzierungsmöglichkeiten voneinander auszuhandeln.

Kopfverluste beim Kopfverdrehen

Beim Flirt fällt dieses Primat weg, er ist im Moment weder eine definierte Distanz- noch Nähe-Beziehung. Und das verwirrt, beschönigend als kribbelnde Verzauberung umschrieben.

Zwei Beispiele: Während eines spontan entstandenen Flirts täuscht Sie plötzlich und blödsinnigerweise distanzierende Eile vor, obwohl Sie eigentlich nichts liebe täte, als auf der Stelle alles stehen und liegen zu lassen und mit Ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen. Oder Er nähert sich Ihr mit Nachdruck und ohne Vorankündigung ganz plump-direkt, und Sie fällt dann aus allen Wolken — wie Er.

Mit dem flirttypischen Verlust der Kopfhoheit der Betroffenen verselbständigt sich die soziale Konstruktion Flirt. Weder die empirisch auffälligen Muster, in denen sich die Flirt-Struktur ausformt (Scherzen, Lästern, Blicken), noch die Schwellwerte des Austarierens von Nähe und Distanz liegen im individuellen Belieben. Welche etablierten Handlungsmuster können heutzutage noch herangezogen werden, um eine Annäherung ädaquat einzustufen? Die Gregory-Peck-/ Doris-Day- Technicolor-Vorgabe aus dem Jahr 56 wirkt nämlich ähnlich albern wie das gegenseitige Sicheinwickeln mit „Simon and Garfunkel“ bei Kerzenschein. Es gibt keine vermittelnden Vermittlungen mehr. Es fehlen Handlungsschemata, die gleichberechtigte Machtbeziehungen asymmetrisieren.

Legen die beteiligten Personen sich auf einen der Pole Nähe oder Distanz fest, ist der Flirt vorbei: Er wird beendet durch das Abrutschen in ein themengeleitetes Gespräch (wie intim auch immer es inhaltlich sein mag: es handelt sich dabei um keinen Flirt mehr), durch die kühne Einladung zum Besuchen oder zum Essen, zum Spazierengehen oder auch Schmusen, oder eben durch die Verabschiedung und Trennung. Zum Beenden führt auch das explizite Gewahrwerden und Feststellen, daß beide nur flirteten. Mit dieser Feststellung entsteht ein Zwang zur Entscheidung: Es ist kaum mehr möglich, in das entscheidungsoffene Oszillieren zurückzufallen. Mit der Art des Wegregelns des komplizierten Flirts entstehen dann Normen, die das zukünftige Miteinanderumgehen leicht vorstrukturieren, so daß sich beim nächsten Zusammentreffen vielleicht aufregend eindeutige Intimität statt des stressig vieldeutigen Flirts einstellt.

Das Zugabteil ist der Flirtraum-Klassiker

Nicht zu jeder Zeit und an nicht jedem Ort ist das Flirten möglich: Freizeit, Pausen, Wartezeiten und Feste, auf denen man sich ohnehin im Modus frei flottierender Erwartung befindet, sowie öffentlich zugängliche Bereiche, die ein zwangloses Nebeneinander zulassen, sind Flirtvoraussetzungen. Als der Flirtraum-Klassiker schlechthin gilt das Zugabteil, aber auch Gärten und Kaffeehäuser, Supermärkte und Tankstellen sind flirtfreundliche Umgebungen. Thematisch gebundene Umgebungen wie Werkbänke, Wartezimmer, Krankenhäuser, Volkshochschulen, Universitäten, Büros sind dagegen eher ungeeignet. Die Flirtfreundlichkeit des Telefons (ohnehin ein materialgewordenes Beispiel für Nähe/Distanz) liegt dazwischen: Einerseits können etwaige Erwartungen oder gar Ansprüche nicht in körperliche Aktionen verwandelt werden, was die verbale Leichtigkeit flirtförderlich erhöht, andererseits bannt es nicht die Gefahr des Abdriftens in ein normales Gespräch. Weitgehend flirtungeeignet sind Diskotheken, weil hier meist, unter Ausnahme vielleicht des Blicketauschs, Näherung unter dem Thema des Aufreißens und Anbandelns steht.

Die Prototypen des Flirts: scherzen, lästern, blicken

Scherzen, Lästern und Blicke sind auffallend typische Umgangsweisen beim Flirten. Das komplizierte einer distanzierten Näherung wird thematisch kurzfristig ersetzt durch gelungener/mißlungener Scherz, treffendes/überzogenes Lästern, freundlicher/leerer Blick. Lange und intensive Gespräche verhindern zumeist den Tanz um Nähe und Distanz, allenfalls leichte Gespräche können den Flirt strecken, indem die Kopfverluste sich nach jeder Erzählperiode von neuem einstellen.

Der Scherzflirt: Anstelle einer Näherungsstrategie steht beim Scherzen vielmehr der Versuch nach dem Motto „Je durchschlagender die Pointe, desto gelungener die Näherung“. Die Attraktivität des Scherzes besteht darin, daß mit der Pointe die schlagartige Lösung der Nähe-Distanz-Spannung versprochen wird. Die gelungene Pointe wirft jedoch kein Kriterium ab, anhand dessen das Maß der Näherung besser beurteilt werden könnte als vor dem Scherz. Die geteilte Lachlust zeigt dabei eine untergründige symmetrische Auffassung der Situation an; die Nicht- Definiertheit des Flirts bewirkt das wohldefinierte Oszillieren. Im Moment der Episode war man einander kurz nahe, doch unabhängig davon, ob die Pointe nun geglückt ist oder nicht, erfordern Pointe und Lachen anschließend ein erneutes Einsteigen in die nächste Episode, obgleich nicht zwingend in Form eines Scherzes.

Der Lästerflirt: Beim Lästern, Klatschen oder Spotten wird Nähe durch die Gemeinsamkeit, die sich im Lästern über Absonderliches, Unkonventionelles, Befremdliches oder Pikantes zeigt, erzielt, wobei die übereinstimmende Kommentierung und Bewertung das Entscheidende ist. Man klatscht über Bekannte oder gar Freunde, man spottet gemeinsam über deren Geschmack, oder man zieht über irgendeinen Film her. Die Distanzierung steckt oftmals im aufgedrehten Lästern über den Gemeinsamkeitspunkt selbst. Das heißt, die Flirtenden finden einen Punkt der Gemeinsamkeit und sorgen durch überzogenes Lästern dafür, daß sie sich durch Absetzen von der Gemeinsamkeit wieder voneinander distanzieren können. Man deutet mit dem Lästern an, was man alles (zum Beispiel an Urteilskraft) für den Partner zu opfern bereit ist — man macht gewissermaßen seine Opportunität zum Geschenk.

Der Blick-Flirt: Ein Augen-Blick zeigt die Näherung über die Distanz, ohne die Distanz tatsächlich zu verringern, und eignet sich wegen seiner Flüchtigkeit und „Ungefährlichkeit“ besonders als Flirt beziehungsweise Flirt-Starter. Das Liebäugeln in der belebten Fußgängerzone oder zwischen Ihr im Auto und Ihm im Bus vor der roten Ampel zeigt: Je sicherer die Distanz zwischen beiden (hier zwei Fensterscheiben + ein drohender Verkehrstod), um so freundlicher, das heißt frecher und länger, darf dann auch der Blick sein. Ähnlich verhält es sich in der Diskothek oder bei festlichen Veranstaltungen: Je mehr Geländer, beladene Tische oder Menschenleiber zwischen den beiden, desto gewagter und eindeutiger der schöne Augen-Blick. Die Grenzen sind klar. Wegen der sozialen Leichtigkeit und imaginären Offenheit kann in einen kurzen Flirt- Blick mit integriertem Lächeln alles hineinphantasiert werden. Man flirtet dann halt mehr mit einer Idee als mit einer realen Person.

Fazit: Mit einer Theorie des Flirts läßt sich durchaus besser flirten als ohne Theorie. Mit Theorie kann Er/ Sie in einer Sekunde durchschimmernden Bewußtseins die Flirtmöglichkeiten „scherzen, lästern und blicken“ übersehen. Er/Sie hütet sich vor beziehungsfestlegenden, verbindlichen Rastern dadurch, daß definitiv darauf verzichtet wird, auf einen der beiden Pole zu setzen. Er/ Sie übt sich beim Flirten in der jedem Katzenkenner sofort einsichtigen Kunst des Festhaltens im Loslassen. Anbändeln ist kein Flirten, sondern Anbändeln. Will Er/Sie jedoch eine amouröse Verbindung und begnügt sich mit dem Flirten, weil ein Flirt auf den ersten Blick einen risikoverminderten Übergang von Distanz zur Nähe verspricht, kann dauerhaftes Flirten die notwendig immer riskante Anstrengung zur Klärung einer Beziehung auch behindern. Mit der Symmetrie in der Geschlechterbeziehung gewinnt zudem die rational beziehungsstiftende Kontaktanzeige an Bedeutung: Lust auf Nähe wird aus der Distanz, versteckt hinter Chiffre und großer Leserzahl, freimütig mitteilbar. Zum Glück kann beim Treffen kaum ein Flirt entstehen, haben beide doch ausdrücklich bekundet, daß sie Nähe suchen. R.Ost