: Im Butoh, heißt es, schlafen die Körper
■ Eine unbewegte Raserei: Jürgen Müller-Othzen, Leiter des Festivals, über den japanischen Butoh, den Tanz der kurzen Beine
taz: Der Butoh ist eine Art gebändigter Raserei. Was aber hat Raserei mit Japan zu tun?
Jürgen Müller-Othzen: Die Japaner zügeln sich sehr in allen Künsten; denken Sie nur an das No- Theater. Aber überall, auch in den traditionellen Kampfkünsten, die auf die äußerste Form hinarbeiten, kommen ungeheure Energien zum Vorschein und bringen diese Form zum Ziel, zum Schlag, zum Stich.
Aber über die Radikalität des Butoh sind vor vierzig Jahren, als er entstand, selbst die Japaner erschrocken.
Ja, das war ein Skandal. Der Butoh ist ja geboren aus dem Widerstand der Japaner gegen das importierte Ballett des Westens. Das hatte bei Hofe großen Erfolg; da gastierten langbeinige Wesen, die flogen so leicht dahin. Die japanischen Tänzer aber taten sich sehr schwer damit. Die hatten sich aus Europa eine Art Befreiung erhofft, und was kam jetzt daher? Ein Tanz, der war genauso rüde reglementiert wie das, was sie kannten. Dann aber lernten japanische Tänzer den deutschen Ausdruckstanz kennen, Harald Kreuzberg, Mary Wigman. Sie lasen Texte von Artaud und Genet. Da fanden sie Bilder, die die alten Techniken sprengten; daraus entwickelten sie Tänze für ihre Körper, für ihre kurzen Beine: rein in die Erde; weg mit den starren Formen.
Der Ausbruch geht aber eher als Implosion vonstatten. Butoh kann sehr langsam sein.
So was von langsam. Der Butoh arbeitet geradezu gegen die Zeit. Er arbeitet in dem Tempo, in dem Pflanzen wachsen. Der Tänzer bewegt sich oft kaum merklich; alle Kraft wird nach innen gerichtet, versenkt, komprimiert, bis sich eine unglaubliche Spannung aufbaut. Früher oder später guckt dann das Publikum wie hypnotisiert. Im Butoh, heißt es, schlafen die Körper.
Deshalb vielleicht sagt man vom Butoh auch, er tanze die „dunkle Seite“ der Seele.
Aber in einem gleichmütigen Sinn. Die Farbe der Trauer in Japan ist ja Weiß; die dunkle Seite, das ist der Tod, das sind verborgene Seelenlandschaften, das ist das ganz andere, ganz Unvermutete. Im Grunde interessiert den Butoh nichts als von allem das Gegenteil. Tatsumi Hijikata, genannt „Architekt des Butoh“, trug sein Haar sehr lang, was in Japan enormes Aufsehen erregte. Daraufhin sagte er immer: Das ist meine tote Schwester, die in mir lebt. Weiter sagte er, und das ist das Spannende: Wenn ich mich setze, steht sie auf, wenn ich aufstehe, setzt sie sich. Das ist exakt der Butoh: Im Mann ist die Frau, im Vorwärtsgehen das Zurückweichen. Da gibt es nichts Häßliches. Uns überraschen zum Beispiel die merkwürdigen Bewegungen im Butoh: Die wenden sich nach innen, die krümmen sich einwärts, da schrumpeln die Tänzer und erstarren; manchmal sehen sie aus wie verknorpelte Wurzeln, wie verkrüppelte Pflanzen. Manchmal wie Herbstlaub: verdorrt, aber leuchtend bunt. Eine Ästhetik des Todes.
Und woher kommt die Kontrolle der Bewegung? Aus der japanischen Tradition?
Nein, aus einer intensiven Beschäftigung mit dem Kreatürlichen. Das ganze westliche Tanzsystem huldigt der Aufwärtsbewegung, dem Sprung. Die Tänzer breiten ständig die Arme und öffnen sich wie Blüten eines Baums. Butoh dagegen zeigt die knorrige Wurzel da unten, das Einwärtsgekrümmte, das Aufgeladene. Der Butoh bearbeitet die ganze andere Seite der Existenz. Alle Bewegungen sind daraus abgeleitet.
Und oft doch auch himmelschreiend komisch. Diese Buster-Keaton-Gesichter, all die Vulkane knapp vor der Tätigkeit.
Ja, manchmal ist das zum Lachen, anderes aber ist so dunkel, daß man's kaum erträgt. Es gibt inzwischen ja auch ganz verschiedene Ausprägungen. Carlotta Ikeda, die übrigens auch kommen wird, sagt, daß ihr Butoh quasi immer „heller“ wird. Das scheint eine allgemeine Tendenz zu sein. Andere Gruppen haben regelrechte Formen ausgeprägt; das sind richtig saubere, geschliffene Sachen. Die Gruppe „Tatoeba“, auch auf dem Festival, steht dagegen eher für die groteske, die makabre Seite des Butoh.
Das Festival nennt sich „Butoh and Related Arts“. wo überall hat dieser Tanz Spuren hinterlassen?
Überall auf der Welt, wo im Tanztheater diese einwärts gewendeten Figuren auftauchen, wo plötzlich die Beine einknicken. Auch im Schauspiel: Plötzlich gab es da diese in sich gekrallten Gesten. Oder der kahle Kopf. Alles das kommt vom Butoh her, selbst solche Ästhetizismen. Es fiel eben im Westen mal auf, daß man bisher nur die Hälfte der Bewegungen getanzt hatte. Das heißt nun nicht, daß die andere Hälfte der Butoh erfunden hätte. Aber er hat aufgenommen, und oft mit großer Hingabe, was sich unabhängig von ihm anderswo an Gegenbewegung gebildet hatte.
Kazuo Ohno zum Beispiel, der vor sechzig Jahren die berühmte Tänzerin „La Argentina“ gesehen hat, der seither, und immer in Frauenkleidern, ihr huldigt.
Ja. Ein unglaublicher Mensch, der gelernt hat, in jedem Moment seine Seele sprechen zu lassen. Wie ein Kind. Ein 86jähriges spielendes Kind. Diese Unverschämtheit! Dieses Können! Ohno ist auch bei uns, mit seinem Sohn. Auf seine Art hat das auch Etienne Decroux, der Lehrer aller großen Pantomimen, vefolgt: die „mime pur“, wie er sie nannte, die Bewegung unter absoluter Körperkontrolle: Nicht Wasser spielen, sondern Wasser sein.
„Mime pur“, einwärts krümmen, das klingt alles nach Sparen, Zurücknehmen, Aufladen.
Ja. Darin liegt auch die Bedeutung des Butoh, darum wird er in zehn, zwanzig Jahren enorm wichtig sein. Wir sind ja alle inzwischen Darstellungskünstler, wir geben uns, wir schlüpfen in Rollen. der Butoh sagt: Aufgepaßt! Stop! Wir schalten ab. Wir fangen neu an. Wir schauen mal, was du über dich sagen kannst, und wenn es noch so schrecklich und unbegreiflich ist. Interview: Manfred Dworschak
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