piwik no script img

KOMMENTAREDeutsche far niente

■ Eine Nation verändert ihr Wesen

Jahrzehntelang wurde die Weltöffentlichkeit hinters Licht geführt, doch nun gibt's kein Vertun, blanke Statistiken decouvrieren die Wahrheit: Die Mentalitätsgeschichte einer ganzen Nation muß schonungslos neu geschrieben werden, der Deutsche, der gemeine und arbeitnehmende, ist ein faules Schwein. Vorbei die Mär vom arbeitsam rackernden Germanen, Schluß mit dem Mythos vom pflichtbewußten Teutonen! Jeden Freitagmorgen holt er sich seine Krankheit und reist — bei vollem Lohnausgleich — quietschvergnügt und kerngesund ins Wochenende. Frühestens am Dienstag, nach Ablauf der „Karenztage“, meldet er sich vom „deutsche far niente“ wieder zurück. Die ausblutenden Arbeitgeber? Bisher völlig machtlos. Die deutsche Wirtschaft? Schmachvoll hinterherhinkend hinter einer rastlosen Konkurrenz aus emsigem Proletariat.

Und die Welt? Nun, sie dürfte getrost aufatmen. Das deutsche Wesen, an dem einst die Welt genesen sollte, es wäre nur noch halb so furchterregend. Zwei Weltkriege hätten vermieden werden können, hätte „der Deutsche“ seine neuen Tugenden schon früher an den Tag gelegt. Verheerende Schlachten wären gar nicht erst geschlagen worden. Ein Drittel der Truppe mit simulierten Darmbeschwerden auf Heimaturlaub, das hält auch die kriegslüsternste Wehrmacht nicht aus. Wie anders wären die Geschicke der Weltgeschichte verlaufen, hätte die Nation die Lust am Betrug schon vorher entdeckt und ihre Obrigkeitshörigkeit nicht erst im Umgang mit Krankenkassen und Arbeitgebern abgelegt. Wie viele Volkswagen und Daimler, Raketen und andere unselige Erfindungen wären der Welt erspart geblieben, hätten diese Deutschen nur schon früher das Recht auf Faulheit und Blaumachen entdeckt.

Doch auch wenn er spät kommt, der heilsame Genesungsprozeß des deutschen Wesens, er ist und bleibt ein Hoffnungsschimmer. Zeigt er doch, daß deutsche Touristen aus ihren südlichen Urlaubsländern nicht nur Spaghetti und häßliche Souvenirs mitbringen. Im Zeichen der europäischen Einigung ein längst überfälliges Signal der Annäherung. Zu schade nur, daß leider auch Krankheitsstatistiken lügen und daß man Arbeitgebern und CDU-Sozialpolitikern nicht glauben darf, wenn sie ihre Pfründe mit billigen Polemiken und Halbwahrheiten sichern wollen. So müssen wir — allen Beschimpfungen der Arbeitgeber zum Trotz — leider wohl die bittere Wahrheit zur Kenntnis nehmen: Die Deutschen sind schlechter als ihr Ruf — zur Pflichtverweigerung zu feige, zum Schwindeln zu phantasielos, zum Faulsein zu gelangweilt und so arbeitsam, daß es am Ende der Woche nur noch zum Kranksein reicht. Vera Gaserow

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen