: Phobische Neue Welt
Der Fluchtweg in die „Ökologische Gesellschaft“ wird von guten Ratschlägen der Pharma-Industrie begleitet/ Leiten die Ex-Linken ein lustfeindliches Zeitalter ein? ■ VON PHILIPPE ANDRE
Unsere letzte Monatsabrechnung wirkte wie der schockartige Schauder nach einer schlimmeren Verletzung — bevor der Schmerz einsetzt. „Allein für die Freßsachen haben wir erheblich mehr ausgegeben, als wir überhaupt hatten“, empörte sich meine Gattin am Abend. „So geht das nicht weiter.“ — „Biofleisch ist teuer“, wandte ich leise ein. „Teuer?“ Ein verzweifeltes, fast irres Lachen hallte durch die karg möblierte Wohnung. Noch waren wir nicht zu meiner Fahrradrechnung gekommen, sie lag zufällig zuunterst. Mir blieb also Zeit, eine passable Verhandlungsposition zu erarbeiten. „Was sind denn das für 44 Mark?“ Wie beiläufig deutete ich auf eine Rechnung von 'Drospa‘. Einen Moment zögerte sie, mimte Nachdenklichkeit. „Ach ja, das Sonnenzeugs“, nuschelte sie dann und führte als Ablenkungsmanöver eine reibende Bewegung auf ihrer linken Schulter vor...
Ökologische Gesellschaft?
Gesund leben kostet heute einen Haufen Geld. Außerdem traf uns die neueste Mieterhöhung über hundert Mark wie eine durchgezogene Mike- Tyson-Gerade und der erste Sommerurlaub, den wir nicht im Schlafsack am Strand verbringen wollen, wirkt auf unsere finanziellen Verhältnisse schon jetzt wie kochendes Wasser auf die Heilungschancen einer bösen Brandwunde.
Die alten Sorgen und Ängste sind weg. Unsere Welt ist zwar keineswegs friedlicher geworden, doch hat kaum noch jemand Angst vor einem Krieg. Die jüngsten Oster(lah)märsche waren dafür ein untrügliches Indiz. Denn heutzutage geht man als fortschrittlicher Mensch für den erhofften Frieden ja nicht mehr auf die Straße, sondern fliegt sauber über den realen Krieg hinweg in den Urlaub nach Kreta, Samothraki oder in die Türkei.
Der real existiert habende Sozialismus hat sich längst in seine verfault seienden Bestandteile aufgelöst. Die Aussicht auf einen weltweiten, endgültigen Sieg des Kapitals mit seinen wenig menschenfreundlichen Folgen scheint für uns jeden Schrecken verloren zu haben. Eine Alternative zum Profitsystem ist jedenfalls weniger denn je in Sicht. Eher schon eine für die Bedürfnisse unserer Alternativen „sensibilisierte“ Marktwirtschaft. Und in den Köpfen einstmals Linker scheint die „ökologische Gesellschaft“ — so heißt die neulinke Zauberformel der altbekannten „konkreten Utopie“ — nur unter Einbeziehung nunmehr kapitalistischer Instrumente avisierbar zu sein. Obschon etwa Wohnungsnot und Mieten gleichermaßen extrapyramidal ansteigen, ist eine längst überfällige neue Krakerbewegung noch nicht mal ansatzweise zu erkennen. Überall nur Kraken! Der Autoverkehr bringt uns auf die Palme, sicher. Aber da oben lassen sich nun mal keine Strategien des Kampfes entwickeln!
Die ökologische Gefahr, die uns doch alle gemeinsam noch direkter und unmittelbarer betrifft als unsere bisherigen Sorgen und Nöte, hat nach einem hoffnungsvollen Start in eine echte Bewegung vor einigen Jahren nun zum Rückzug ins Private geführt. Die ehemalige Linke scheint verreist oder abgetaucht. Vielleicht stimmt ja auch das Gerücht, die meisten seien mittlerweile in die Wirtschaft abgewandert, endlich Knete machen. Übrig bleiben die nunmehr vollends verunsicherten Alternativen, bislang von der Linken geführt — bald nur noch genasführt?
Gesunde Natur muß sein — dort, wo wir den Urlaub zu verbringen gedenken. Deswegen sagen wir auch nur ungern was, wenn der weltweit größte Giftmüllproduzent Deutschland die jährlich 4,5 Millionen Tonnen überschüssigen Drecks jetzt in den Osten verdealt. Wer fährt da schon hin! Auch einen gesunden Körper hätten wir gerne. Und für unseren ganz privaten gesunden Geist tun wir noch mehr. Tun wir zuviel? Werden wir auf unserer einsamen Suche nach dem privaten Glück nicht längst wieder in altbewährter Manier isoliert und nach Kräften ausgenommen?
Photophobische Zukunft?
Sprechen wir über die Angst vor der Sonne. Sie schadet Ihrer Gesundheit, heißt es allerorten, kaufen Sie dies und jenes und erstehen Sie bitte unbedingt auch das noch und dies — Sie müssen sich doch schützen! Neuester Clou der gesundheitlichen Absahner ist ein Sonnenbranddetektor namens „Uvascan“, der uns, ab nächstes Jahr, schon für etwa 60 schlappe Märker anzeigen kann, ab wann wir auf weitere Sonneneinwirkung besser verzichten sollten. Das Buch Selber hinsehen scheint vergriffen.
Doch es gibt auch die anderen. Kannte ich bislang zum Beispiel niemanden, der so pervers war, die Sonne zu verabscheuen, häufen sich nun die Fälle. Unter dem Einfluß der üblen Hetze gegen die liebliche Spenderin allen Lebens, die unter den Begriffen Ozongefahr/Hautkrebs vorangetrieben wird, begegnen mir mittlerweile richtige Regenjunkies, Fans tiefhängender Wolken und feuchtkalter Hundstage und Lichtschutzfaktor-14-Fetischisten en masse. Ich erlebe erstmals Arbeitskollegen, die bleicher aus dem Urlaub zurückkehren als sie hineingefahren sind — und ihren Zombieteint auch noch offensiv verteidigen — manche mit gleichsam revolutionärem Elan.
Doch kann denn bronzene Haut Sünde sein? Schon eine unwesentliche Verfärbung der Haut hat doch bereits wesentliche Folgen für uns hellere Typen, deren Teints sich sonst stets zwischen alt- und schweinchenrosa bewegen. Wir wissen nur zu gut, was unter dem „Nosferatu-Effekt“ zu verstehen ist. Die Sonne aber verändert uns. Blass ist gar nicht beautiful! Unter der Einwirkung ihrer Strahlen verschwinden Falten und Runzeln, was leicht labbrig oder bereits schwammig war, wirkt plötzlich straff und kerngesund.
Die Haut scheint sammetartig und duftet so natürlich, daß man sich den eigenen Oberarm abknutschen könnte. Und die psychischen Folgen? Wie wirkt so ein Tag aufs Gemüt, an dem die Sonne in den Gesichtern tanzt und kitzelt und sich wie ein warmes Tuch in den Nacken legt, wenn man ihr den Rücken kehrt? Wird lichtscheu wirklich zur beherrschenden Norm? Aber es ist ja noch viel schlimmer!
Nie wieder Haut auf Haut?
Kondome schützen; okay! Man muß ja aufpassen. Aber geht die Schützerfront nicht auch langsam zu weit mit ihrer Sorge um unser sexualhygienisches Wohlergehen? Es vergeht kaum ein Abend, an dem man nicht einen dieser elenden „Ich muß mit ihr reden“-Spots hört. Bei den meisten Menschen dürfte mittlerweile schon ein unbefangener Blick auf das andere Geschlecht jenes penetrante Aids-Logo grell im Geiste aufblinken lassen.
Eine Agenturmeldung wies kürzlich auf eine Untersuchung der Universität von North Carolina hin, die herausgefunden hat, daß Kondome zwar vor der Übertragung des HIV- Virus schützen, „nicht jedoch vor Geschlechtskrankheiten“. Die könne man viel besser mit dem Diaphragma aussperren, sofern es vorher ausreichend mit spermiziden und viruziden Gels behandelt wurde. Auch sogenannte Schaumovula, spermakillende Cremes, sollen das Risiko einer Infizierung erheblich verringern.
Müssen wir jetzt neben dem Kondom, das ja — unter uns — wirklich nicht als Aphrodisiakum durchgehen kann (obwohl sie dabei sind, uns das auch noch weiszumachen), nun stets noch diverse Cremes und Sprays mitführen, um uns auch sicher vor Gonorrhöe, Trichomanase und Chlamydiose zu schützen? Was ist mit Syphilis oder dem weichen Schanker? Da kann es einem doch echt vergehen. Ist das beabsichtigt? Soll das etwa heißen: weg vom Sex, Leute — zu gefährlich? „Zu billig“ würden sie ja auch nie offen sagen. Nie wieder Haut auf Haut? Französisch mega-out? Cunnilingus und Fellatio für immer aus dem Repertoire der weltweit herrlichsten zwischenmenschlichen Schweinereien gestrichen?
Das ist doch absurd. Die Hygiene- Industrie verdient sich goldene Nasen, und wir werden uns womöglich bald schon in hautechte „Ganzkörper-Bodies“ aus Schkopau mit eingesticktem Zungenteil (Linguier) hüllen. Wenn es dann zum Austausch von Zärtlichkeiten kommt, werden die „anfallenden“ Sekrete und Flüssigkeiten wahrscheinlich in besonderen Saum-Kanülen einem genormten Sammelbehälter Marke „Refill“ zugeführt. Oder?
Nein, diese Entwicklung wird es hoffentlich nicht geben. Doch angesichts der gut eingeläuteten Anti-Abtreibungsoffensive und einer von bestverdienenden Gesundheitsprofis geschürten Überängstlichkeit andererseits, die bald nichts mehr dem Zufall anvertrauen möchte, wird einem doch allmählich angst und bange. Ich sehe schon den Durchmarsch der Alternative Brain- oder Cyber-Sex.
Postpuritanischer Neocalvinismus?
Sind wir etwa, ohne es bemerkt zu haben, bereits unwiderruflich auf dem dornigen Weg in ein neues, betont lustfeindliches Jahrhundert tugendhafter Keuschheit und blutarmer Enthaltsamkeit? Das riecht doch schon streng nach glibbrigem postpuritanischen Neocalvinismus! Dürfen wir denn zulassen, daß Jungfernhäutchen, Anstands-Wauwau und Kastrationsängste das Leben und die Alpträume unserer Kinder und Kindeskinder beherrschen werden? Ausgerechnet wir, die wir doch einen guten Teil unserer juvenilen Kampfphase eben jener Befreiung von all der Enge und Miefigkeit, der ekelhaften Doppelmoral und scheinheiligen Rationalisierungskünste gewidmet haben? Klar ist doch, daß kein Unterschied besteht, ob einer sich natürlicher und wichtiger Bedürfnisse enthalten muß, weil er Angst vor Gott oder eben vor lauter Krankheiten haben soll. Er wird beginnen, weitere Gründe zu suchen, diese konstruierte und letztlich absurde Angst zu rechtfertigen.
So wird, wenn wir nicht aufpassen, aus dem kollektiven Wunsch, sich vor echten und vermeintlichen Gefahren zu schützen, vielleicht bald eine bedrückende gesellschaftliche Atmosphäre lähmender Vereinzelung, in der Flirt, Erotik, Sex oder Geilheit ebenso aus dem Vokabular des Teufels höchstselbst stammen wie die Friedensdemo, die gesunde Bräune, der Hausbesetzer oder gar neue Lebensformen. Wir werden ackern und rackern, um wenigstens die Mieten für unsere Wohnzellen entrichten zu können, und für den verdienten Jahresurlaub wird uns sicher bald ein junges aufstrebendes Unternehmen tüchtiger Ex-Linker den vollklimatisierten Bleichtank „A la basta“ anbieten. Da dürfen wir dann volle zwei Wochen in einer Art Sagrotanlauge verbringen; Lichttherapie inbegriffen — der Depressionen wegen.
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