Neun Jahre alt und schon Terrorist?

129a-Ermittlungen gegen Minderjährige/ Angebliche Taten liegen zum Teil Jahre zurück  ■ Aus Göttingen Reimar Paul

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle und das Landeskriminalamt (LKA) Hannover ermitteln nach Paragraph 129a gegen fünf Göttinger Schüler. Die 13 bis 17 Jahre alten Jugendlichen sollen eine terroristische Vereinigung gegründet und als solche gemeinsam mehrere, bis zu vier Jahre zurückliegende Anschläge verübt haben. Die Betroffenen erhielten vom LKA Vorladungen zur Vernehmung als Beschuldigte. Gleichzeitig wurden die Eltern der Schüler über die Ermittlungen informiert.

Die Adressen der fünf Jugendlichen waren der Polizei bei einer Straßenkontrolle im Landkreis Göttingen am Abend des 26.Oktober 1991 in die Hände gefallen. Zuvor war es am Wohnhaus des inzwischen in seine österreichische Heimat ausgewiesenen Neonazi-Führers Karl Polacek in dem Dorf Mackenrode zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen rechtsradikalen Skins und GegendemonstrantInnen gekommen, in deren Verlauf mehrere Personen verletzt wurden. Die erst nach Ende der Straßenschlacht anrückenden Beamten überprüften die Identität von 15 jungen Leuten. 129a-Ermittlungsbescheide und Vorladungen erhielten aber nur die fünf Minderjährigen aus der Gruppe der Gegendemonstranten.

Um zu erfahren, was ihnen überhaupt zur Last gelegt wird, folgte einer der Beschuldigten der polizeilichen Vorladung. Als Grund für die Ermittlungen, so der Betroffene, seien ihm zahlreiche Brandanschläge vorgehalten worden, die Unbekannte in den vergangenen vier Jahren in und um Göttingen begangen hätten. Zum Zeitpunkt der frühesten Taten waren die Beschuldigten zwischen neun und 13 Jahre alt! Und viele der später verübten Anschläge sind inzwischen aufgeklärt. So gestand ein 39jähriger, psychisch kranken Mann, im Jahr 1991 mindestens fünf größere Brände im Göttinger Stadtgebiet gelegt zu haben. Von den Feuern waren unter anderem ein Lagerschuppen des 'Göttinger Tageblattes‘ sowie zwei Häuser in Kleingartenkolonien in Mitleidenschaft gezogen worden. Nach Polizeiangaben waren an den Tatorten Bekennerschreiben mit der Unterschrift „Anti-Deutschland-Liga“ beziehungsweise „Autonome Gewaltherrschaft“ aufgefunden worden, was zunächst auf eine „linksextremistische Urheberschaft“ hingedeutet habe. Aus der autonomen Szene war eine Beteiligung an diesen Aktionen energisch dementiert worden.

Bei der Vernehmung im Göttinger Polizeirevier, so der betroffene Schüler, hätten die LKA-Beamten ihm Strafmilderung, Zeugenschutz und ausdrücklich auch die Kronzeugenregelung im Gegenzug für Informationen aus der „Szene“ angeboten. Die Betroffenen gehen davon aus, daß weder die Polizei noch die Ermittlungsbehörden ernsthaft an eine Tatbeteiligung der Schüler an irgendwelchen Anschlägen oder die Bildung einer terroristischen Vereinigung glauben. Ziel der Ermittlungen sei vielmehr, über die wegen ihrer Jugend vermeintlich leicht einzuschüchternden „Beschuldigten“ an Infos über die in Göttingen traditionell starke autonome Szene heranzukommen. Schließlich legitimiere die offizielle Eröffnung eines 129a-Verfahrens auch Ermittlungs- und Observationsmethoden wie das Abhören von Telefongesprächen, das Öffnen von Briefen einschließlich der Überwachung des schriftlichen Verteidigerverkehrs sowie die Einrichtung von polizeilichen Kontrollstellen und die sogenannte „Schleppnetzfahndung“.