piwik no script img

Angekündigter Absturz

■ Holzhosen, Megaphonterror, Weizenkorn am Prenzlauer Berg

Samstag, 16. Mai 19.20 Uhr: U- Bahnhof Hermannplatz, Trauer. Dortmund ist nicht Fußballmeister. Menschen schleichen mit hängenden Ohren herum. Michael Stein hat eine Flasche Tequila dabei. Großer Trost. Wollen zu Ernst Baumeister in die »Galerie Oder Form«. Ernst ist Maler/Bildhauer. Beschäftigt sich mit Hunden und Holzhosen.

Oderberger Straße 27, 20 Uhr. Galeristin begrüßt uns mit Weißwein. Guter Einstieg. An den Wänden der Galerie hängen 44 Hosenzeichnungen. Bleistift auf Papier DIN A4. Die Holzhosen stehen auf Holzparkett. 25 Stück, darunter »Die Hosen von Barlach«: Bundweite 91,5 cm, Länge 86,8 cm, Gewicht 9,1 kg. Eine waagerecht hängende Hose mit leicht gespreizten Beinen. Aus 96 Holzringen geleimt. Weites Hosenoberteil. Flache Gesäßpartie ist in die geschlossene Schrittspalte hineingezogen. Leichte Auswölbung oberhalb der vorderen Schrittspalte. Sich nach unten verjüngende ovale Beinform. Glattgeschliffen. Gewachst und poliert. Verschiedene Holztöne. Innen: der Außenform nach hohl. Holzringe nicht glattgeschliffen. Rippenartige Gliederung. Die Schrittfalte verläuft nach vorn und nach hinten zapfenförmig aus (Nachweis: Hosenregister 90/91).

Ein Video zeigt das bedenkliche Schicksal des Hosenträgers Z.

Die Geschichte des hosentragenden Polizisten Z., nacherzählt von Michael Stein: Als der hosentragende Polizeibeamte Z. einen Reifenstecher verfolgt, bildet sich in seinem Schritt ein Schweißstau. Das führt zur Bildung eines häßlichen, juckenden Ekzems. Z. schämt sich. In der Folgezeit untersucht er unter Mißbrauch seiner Amtsgewalt wahllos Männerschritte auf das Vorhandensein häßlicher, juckender Ekzeme. Er hofft auf Katharsis, doch erst die Versetzung in das Sittendezernat bringt Erlösung.

Oderberger Straße 28-47, 21 Uhr. Auf dem Weg zur »Galerie O Zwei ist frei«. Die Häuserfronten zieren fremd gewordene, unwirkliche Insignien einer vergangenen Epoche. Nr. 18: »Humboldt-Uni Abt. Transportwesen«. Nr. 16: »Rohproduktenhandlung«. Nr. 47: »Seifen-Wirtschaftswaren«. Moderner Buchstabensalat, nicht weniger auffällig auf einer Spanholzplatte über der Nr. 22: »Betroffenenvertretung«. Für wen? Gegen wen? Oder was überhaupt? Konkreter ein Aufkleber an einem Uralttrabanten: »Lacht der Gerstensaft dir zu, trinke voller Seelenruh«. Daneben: »Aus dem Gläschen noch so klein, kann man saufen wie ein Schwein«. Schräg gegenüber an einer Hauswand das Graffito: »Saufen Saufen Fressen Fressen«.

Vor der Galerie O Zwei ist frei hat der Maler/Musiker/Aktionskünstler Henning Christiansen mit seinen SchülerInnen ein Wasserspiel installiert. Aus dem dritten Stock des Hauses führt ein Wasserschlauch in eine Blechwanne. Die Wanne wurde angebohrt, das Wasser plätschert in eine weitere Wanne. 200 Menschen verfolgen, wie die Künstler mit Pappröhren musizieren, ihnen dunkle, geheimnisvolle Töne entlocken, die Enden immer wieder leicht auf die Erde schlagen, als sollten die Neckereien Mutter Erde beruhigen. Ein Mann und eine Frau jandeln dazu in eine Verstärkeranlage: »Metropöle Metropöle Soli Poli Poli Soler Poli Bumm Bumm Bumm Politikustest Politest Politest!«

In der Galerie: Bilder/Objekte des Henning Christiansen: Filzlappen, grün. Buntstiftzeichnungen, grün dominiert. Aufschriften: »Bla bla bla« und »IO am en Vogel«. Im Objektraum. Dual-Plattenspieler, grün. Tisch, grün. Ein Paar Socken, Fußlappen grün. Ein Video zeigt das Innenleben einer grünen Röhre.

Traktat des Henning Christiansen, Auszug: Die Zeit steht niemals still. Sie gleitet wie ein ruhiger Strom in das Schweigen. Sie kümmert sich nicht darum, was wir getan oder nicht getan haben. Sie ist unerbittlich und erzählt eigentlich nur... daß... Nichts ist ewig, nicht einmal die Erde, auf der du stehst, oder der Stein, den du in der Hand hältst. Nenne die Zeit unerschütterlich, auch das ist sie nicht, sie geht und geht einfach mit dir, solange du folgen kannst.

Vor der Galerie O Zwei ist frei entsteht eine fröhliche Party. Henning Christiansen mittenmang. Zeit und Raum für Entleerungen. »Kunst ist doch langweilig«, weiß ein Mittvierziger Hippie, »das Leben findet auf der Straße statt.«

Gleich nebenan hat Milan Markovic »Im Dreieck« Bilder ausgestellt. Quadrate in Schallplattencovergröße. Auf jedem Quadrat wird ein Buchstabe von einem goldfarbenen Hufeisen teilweise verdeckt. Der graue Hintergrund wirkt auf den ersten Blick wie Blei, macht Angst, daß die Bilder von den Wänden purzeln. Ist aber hauchdünnes Papier. Erleichterung.

Oderberger Straße 27, 21 Uhr. Michael Stein steht mit einem Megaphon vor der Galerie Oder Form und hält Menschen davon ab, nach Hause zu gehen.

Aus der Rede des Michael Stein, vorgetragen mit einem Megaphon:

der Mann die Hose das Leben

die Hose schützt den Mann

die Hose stützt den Mann

die Hose nützt dem Mann

im Gegensatz zum Schlips

der Schlips ist stoffgewordener Penis

der Penis, das eigentliche Statussymbol des Mannes

wird durch seine Hose verdeckt...

eine Windhose tost übers Land

im Sog der Hose

alles Lose

Katastrose

oh!

Oderberger Straße 22 Uhr. Bin mit ... bei ... um ... einzunehmen. TV- Diskussion über RAF-Gefangene. Moderator fordert Berufsverbot für Terroristen. Beschließen, wenn sowieso schon alles egal ist, ausnahmsweise auch mal Schweinefleisch zu essen.

Oderberger Straße 10, 22.30 Uhr. Sechs Stufen bis zur Theke »Zum Oderjahn« (Schild: »Gemütliche Atmosphäre«) Schnitzel mit Weizenkorn. Danach nur Weizenkorn (1,20 Mark). Ernst Baumeister kommt gegen 23.30 Uhr ins Grübeln. »Das Künstlerleben ist echt hart.« »Wieso?« »Es ist so.« Weitere Äußerungen zur Kunst lehnt er kategorisch ab.

Kleines Auto, 24 Uhr. Knastpsychologin chauffiert uns in die »Kommandantur«, Rykestraße. Führen keinen Weizenkorn. Weiterfahrt in den »Osten«, Pistoriusstraße/Weißensee. Führt Weizenkorn. Letzte Wahrnehmungen: Ernst Baumeister und Psychologin knutschen, alle anderen verschwinden im Nebel.

Alexanderplatz. Tote Gegend. Keine Kneipe, kein Kebab, keine Broilerei. Werde verhungern/verdursten müssen. Macht nix. Wer will schon leben, wenn Stuttgart Fußballmeister ist? Werde Buchwald in meine Haßliste aufnehmen. Werner

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen