: Kahlschlag, Tiersterben und Verstädterung
■ In Lateinamerika verschwinden jährlich 50.000 Quadratkilometer Urwald, 200 Tierarten sind vom Aussterben bedroht
Rio de Janeiro (afp) — Neueste Zahlen und Hochrechnungen zeigen, daß die Menschheit schnell handeln muß, wenn sie eine Zukunft haben will. Das gilt auch für Lateinamerika, wo der Erdgipfel bis zum 14. Juni ausgetragen wird. Der Subkontinent ist reich an Naturschätzen: Die Hälfte aller Süßwasservorräte der Erde und mehr als 50 Prozent des Urwalds befinden sich in Lateinamerika. Doch mit den Vorkommen wird grober Raubbau betrieben. Allein im vergangenen Jahr wurden 50.000 Quadratkilometer Urwald abgeholzt. Diese Fläche entspricht einem Territorium, das größer ist als die Schweiz. Durch illegale Exporte sind außerdem viele seltene Tiere vom Aussterben bedroht. Ein weiteres Problem bilden die Großstädte mit ihrer Umweltverschmutzung. Mit Mexiko-Stadt, Sao Paulo und Buenos Aires haben drei lateinamerikanische Metropolen mehr als zehn Millionen Einwohner.
Beispielhaft für die Umweltzerstörung in Lateinamerika ist Brasilien. Dort wurde bereits mehr als ein Zehntel des vier Millionen Quadratkilometer umfassenden Urwalds abgeholzt. Als größtes Umweltproblem des südamerikanischen Landes bezeichnen Experten jedoch die Verstädterung. 1990 lebte knapp die Hälfte der Bevölkerung in 685 Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern. Allein in Sao Paulo wohnen knapp 15 Millionen Menschen, die täglich 18.000 Tonnen Müll erzeugen. Vier Millionen Fahrzeuge zirkulieren in der Metropole und blasen täglich 4.000 Tonnen Kohlenmonoxid in die Luft. Die sanitären Verhältnisse in den Armenvierteln der Großstädte sind untragbar. Das Leben in mehr als einem Drittel der Häuser ist gesundheitsschädlich, nur für zehn Prozent der Haushalte wird das Wasser aufbereitet. Die Folge davon ist die Ausbreitung von Seuchen und eine hohe Kindersterblichkeit: 83 von tausend Neugeborenen überleben das erste Lebensjahr nicht. 1988 starben außerdem 1500 Menschen an Malaria, 40 Millionen Menschen erkrankten an Pocken. Durch die Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Fläche sind 210 Tierarten vom Aussterben bedroht. Während 1950 nur 3,7 Millionen Quadratkilometer landwirtschaftlich genutzt wurden, waren es 1980 schon 85 Millionen Quadratkilometer.
Abfälle aus Industrie und Bergbau
Ein ähnliches Bild bietet sich im benachbarten Argentinien, wo jährlich 15.000 Quadratkilometer Wald abgeholzt werden. Damit steht das südamerikanische Land an der Spitze in ganz Lateinamerika. Claudio Bertonatti vom World Wide Fund for Nature wies in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur 'afp‘ darauf hin, daß die Regierung diese Zahlen weitgehend verheimliche. Wegen der starken Abholzung sind in Argentinien mehr als 200 Arten gefährdet, unter ihnen der Ameisenbär, der Pampahirsch und der Kaiman. Daneben wird der Tierbestand durch illegale Exporte dezimiert. 1991 wurden 3,5 Millionen Leguan-Häute, 2,5 Millionen Nutriapelze und 80.000 seltene Vögel exportiert.
Auch die Gewässer rund um die Hauptstadt Buenos Aires sind stark verschmutzt. Täglich werden fünf Millionen Kubikmeter Abfälle ohne vorherige Reinigung in den Rio de la Plata und seine Nebenflüsse geleitet. In Chile bietet insbesondere die Hauptstadt Santiago ein düsteres Bild. Die fünf Millionen Einwohner zählende Metropole gehört zu den drei am stärksten verschmutzten Städten der Erde. Die Luftverschmutzung ist so stark, daß ein Tag in Santiago die Lunge ebenso belastet wie 20 Zigaretten. 3.000 Quadratkilometer des Landes sind durch die Abfälle aus Industrie und Bergbau verschmutzt. Der Einbau von Filtern in sechs Kupfergießereien, die den größten Reichtum des Landes darstellen, würde 1,6 Milliarden Mark kosten. Da dazu jedoch das Geld fehlt, bleiben beispielsweise in der Nähe der Kupfermine Chuquicamata Kinder und alte Menschen in den Häusern, um nicht die giftigen Dämpfe einzuatmen.
An der Küste von Chanaral hat das Oberste Gericht die Einleitung von Abfällen verboten. Doch ein 15 Kilometer breiter Küstenstreifen ist bereits biologisch tot und wird es noch weitere hundert Jahre bleiben. Ebenso dramatisch stellt sich die Situation in Mittelamerika dar. Um neuen Lebensraum für die Menschen zu schaffen, werden in Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Panama jährlich 3.100 Quadratkilometer Wald zerstört. In Costa Rica rechnen Experten damit, daß bis zum Ende des Jahrtausends kein Urwald mehr existieren wird, wenn die Abholzung so weitergeht. Guatemala hat bereits zwei Drittel seines ursprünglichen Waldbestandes verloren.
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